Leo Berlin
Gesicht. Ob er sie tatsächlich auf Dauer von ihren Schmerzen befreit
hätte? Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Erinnerung
verdrängen.
Sie warf einen liebevollen
Blick auf die Photographie ihrer Tochter, die neben dem Spiegel stand.
Bald würde Viola von ihrer Reise an die Ostsee zurückkehren.
Beim Zubettgehen dachte sie
noch einmal daran, wie sie nichtsahnend das Haus des Heilers verlassen
hatte, die Nussbaumallee entlanggegangen war, zufrieden, dass sie endlich
jemanden gefunden hatte, der sie von ihren quälenden Schmerzen
befreien würde. An der nächsten Straßenecke hatte sie ein
Taxi genommen und beim Einsteigen noch flüchtig einen Bekannten
gesehen, der gerade aus seinem eleganten rot- und cremefarbenen Delage
stieg.
4
Die gesamte Berliner
Presse stapelte sich auf seinem Schreibtisch. Er studierte die Zeitungen
aufmerksam, las alle Berichte über den Mord an dem Heiler Sartorius.
Sie ahnten nichts. Ein Raubmord wurde ausgeschlossen, da nichts aus der
Wohnung entwendet worden war.
Als er die Artikel las,
ging eine Veränderung in ihm vor. Er kam sich plötzlich
ungeheuer mächtig, beinahe allmächtig vor. Er hatte die Tat
nicht einmal geplant, sie war einfach geschehen. Und niemand würde
ahnen, wie leicht es gewesen war, so leicht, dass es seiner beinahe nicht
würdig war.
Er ging ins Schlafzimmer,
öffnete den schön geschnitzten Kleiderschrank, zog eine Wäscheschublade
auf und betrachtete fast liebevoll die Handschuhe. Samt, Kalbsleder,
Satin, Glattleder, in allen Farben, mit Lochmuster, gestrickt mit
Lederbesatz für den Winter, sportlich mit geknöpftem Riegel
über dem Handrücken zum Autofahren. Bedachtsam wählte er
ein Paar aus, das er noch nie getragen hatte, strich sanft darüber
und legte es wieder in die Schublade zurück.
Leo saß zu Hause an
seinem Sekretär, den Kopf in die Hände gestützt. Bislang führten
alle Spuren ins Nichts. Die Personen, die Sartorius an seinem Todestag
behandelt hatte, besaßen alle ein sicheres Alibi.
Das Gespräch mit Elisa
Reichwein hatte ihm neue Einblicke in die Berliner Kunstwelt, aber kaum
kriminalistische Erkenntnisse beschert.
Er war neugierig auf den
Besuch in der Galerie gewesen, weil er sich selbst für Kunst
interessierte und die Galerie Reichwein vor allem die Avantgarde vertrat.
Die Besitzerin öffnete
ihm persönlich die Tür, eingehüllt in ein fließendes
Kleid mit geometrischen Mustern, das an die Bilder erinnerte, die an den Wänden
ihrer Galerie hingen, und führte ihn in einen riesigen Raum mit hohen
Fenstern, der ganz in Blassgelb gehalten war, um alles Augenmerk auf die
Bilder zu lenken. Sie streckte ihm die Hand entgegen, als erwarte sie
einen Handkuss, doch Leo ließ sich nicht auf solche Gesten ein.
Elisa Reichwein schien nichts
von Bubiköpfen zu halten, sondern trug ihr schwarzes Haar, das wie
Lack glänzte, streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einer
festen Rolle gesteckt, was ihr ein leicht japanisches Aussehen verlieh.
Dazu passten auch die porzellanweiße Haut, die sorgfältig
gepudert war, und der karminrote Lippenstift. Nicht mein Typ, dachte Leo,
aber unbestreitbar apart.
»Möchten Sie mir
gleich Fragen stellen oder erst einen Blick auf die Bilder werfen?«,
fragte sie mit wohlklingender Altstimme und deutete mit der türkischen
Zigarette, die sie sich soeben angezündet hatte, auf die Bilder an
den hellgelben Wänden.
»Die Bilder«,
sagte Leo und schaute sich um. Die aktuelle Ausstellung zeigte ausgewählte
dadaistische Werke der letzten sieben Jahre. Bilder von Marcel Janco, Max
Oppenheimer und Francis Picabia, Stickereien von Sophie Täuber-Arp,
eigenartig geformte Objekte von Hans Arp und Marcel Duchamp. So
verschieden sie waren, spiegelten sie doch alle die ungeheuren Umwälzungen
wider, die Europa im letzten Jahrzehnt erlebt hatte. Altes wurde gnadenlos
umgestürzt, Traditionen zerbrachen.
»Das ist leider nur ein
kleiner Ausschnitt«, sagte Elisa Reichwein. »Max Ernst konnte
ich beispielsweise gar nicht bekommen.«
Leo war vor ein Bild von
George Grosz getreten, auf dem eine rasende Menge um einen Sarg tobte,
umgeben von Hochhäusern, im Vordergrund ein Café, aus dem rote
Flammen loderten. Ein Tanz, kurz vor dem Untergang. Oder schon danach.
»Gefällt es Ihnen?«
»Gefallen ist nicht das
richtige Wort. Ich finde es . . . beunruhigend. Man muss einfach
Weitere Kostenlose Bücher