Leo Berlin
hinschauen.«
Sie nickte. »Grosz hat
es gegen Ende des Krieges gemalt. Als hätte er vorausgesehen, welches
Chaos auf den Straßen losbrechen würde.«
Leo konnte sich nur mit Mühe
von den Bildern losreißen. »Frau Reichwein, ich möchte
Ihnen, wie gesagt, einige Fragen über Gabriel Sartorius stellen.«
Mit einer Handbewegung bot
sie ihm einen Platz in einem schlichten hölzernen Sessel mit weißem
Sitzkissen an. Sie selbst blieb an einem der hohen Fenster stehen und
schnippte die Zigarettenasche in einen kleinen Aschenbecher aus Onyx.
»Woher kannten Sie
Herrn Sartorius?«
»Ich habe ihn auf einer
Vernissage kennen gelernt. Wir kamen ins Gespräch, er erzählte
von seiner Arbeit. Als ich mich wenig später nicht wohl fühlte,
habe ich mich an ihn erinnert und von ihm behandeln lassen.«
»Wann waren Sie das
letzte Mal bei ihm?«
Sie überlegte. »Das
ist schon länger her, etwa drei Monate.«
»Warum sind Sie nicht
mehr hingegangen?«
»Weil er meine Probleme
erfolgreich behandelt hat.«
»Mit Kokain?«
Manchmal zog er den schnellen Angriff vor.
Kurz flackerte Überraschung
in ihren Augen auf, dann antwortete sie gelassen: »Ja, das auch. Ich
fühlte mich damals ausgelaugt und müde, nichts wollte mir
gelingen. Er probierte dies und jenes, alles fauler Zauber, wenn Sie mich
fragen. Dann empfahl er mir, es mit Kokain zu versuchen.«
»Bekamen Sie es von ihm
persönlich?«
»Ja, er hatte
gelegentlich etwas in seiner Praxis.«
»Ihre Freundin, Frau
Cramer, sagte mir, Sie hätten ihr Herrn Sartorius empfohlen, als sie
unter Migräne litt. Warum haben Sie das getan, wenn Sie seine
Methoden für faulen Zauber hielten?«
Elisa Reichwein lächelte.
»Nun ja, Ellen ist eine gute Freundin, aber ich will nicht
verhehlen, dass wir beide wenig gemeinsam haben. Sie ist sehr
konventionell und ein wenig leichtgläubig. Und ich dachte mir, dass
ihre Migräne vielleicht . . . wie soll ich sagen, emotionaler Natur
sein könnte. Ein wenig Hokuspokus, ein interessanter Mann wie
Gabriel, vielleicht würde das schon reichen, um sie von ihrem
langweiligen Ehemann abzulenken.«
Leo dachte an den Blick, mit
dem Ellen Cramer ihren Mann an der Haustür erwartet hatte. Sollte
etwa mehr zwischen ihr und dem Heiler gewesen sein?
»War sie seine
Geliebte?«
Elisa Reichweins Lachen
hallte tief und voll durch den hohen Raum. »Oh nein, das würde
nicht zu ihr passen. Sie hätte es mir sicher erzählt. Er hat sie
mit seiner Edelsteintherapie behandelt, das war alles, Herr Kommissar.«
»Gut. Wie Sie bereits
wissen, wurde Herr Sartorius vorgestern in seiner Wohnung erschlagen
aufgefunden.«
Sie nickte.
»Wir vermuten, dass er
seinen Mörder, oder seine Mörderin«, fügte er
herausfordernd hinzu, »gekannt hat. Die Tür war nicht
aufgebrochen, er hat den Besucher selbst eingelassen. Dürfte ich Sie
fragen, wo Sie vorgestern zwischen fünf und sechs Uhr gewesen sind?«
Sie zog überrascht die
Augenbrauen hoch, bewahrte aber ihre gelassene Art. »Da brauche ich
nicht lange zu überlegen. Ich war hier in der Galerie, mein
Mitarbeiter Herr Melotti kann das bestätigen.«
»Es ist eine
Routinefrage. Natürlich überprüfen wir alle Patienten,
soweit sie uns bekannt sind. Können Sie sich vorstellen, welches
Motiv hinter diesem Mord stehen könnte? Hatte Herr Sartorius Feinde
oder Konkurrenten? Gab es enttäuschte Patienten, die sich womöglich
an ihm rächen wollten? Er scheint in illustren Kreisen verkehrt zu
haben.«
»Da haben Sie Recht. Er
lebte von den Reichen und hat sich gerne unter sie gemischt. Kein Fest war
ihm zu bunt, keine Party zu schrill. Seine religiöse Ausstrahlung war
nur Fassade, er war einfach gern mit solchen Leuten zusammen und hat gut
an ihnen verdient.«
»Und dennoch haben Sie
Ihre, wie Sie sagen, gutgläubige Freundin zu ihm geschickt?«,
hakte Leo noch einmal skeptisch nach.
Elisa Reichwein lachte.
»Ich pflege großzügige moralische Maßstäbe,
Herr Kommissar. Er war ja kein Verbrecher und hat, soweit ich weiß,
niemandem geschadet. Das hat Ellen Ihnen gewiss bestätigt.«
Er merkte, dass er bei ihr
nicht weiterkam. Auch war kein Motiv für einen Mord zu erkennen, doch
die Begegnung mit der Galeristin hatte immerhin dazu beigetragen, einige Lücken
im Bild des Ermordeten zu füllen. Leo stand auf und warf noch einen
Blick auf George Grosz’ Totentanz.
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