Leo Berlin
Straße, wo der Dienstwagen stand. Hoffentlich
war der Kollege vom Sittendezernat im Dienst.
Als er in den Hof des Präsidiums
fuhr, trat Ernst Stankowiak gerade aus der Tür. Leo sprang aus dem
Wagen. »Herr Kollege, tut mir leid, aber ich brauche Ihre Hilfe.«
Stankowiak, ein blasser Typ
mit hellen Haaren, die mit seiner Haut zu verschmelzen schienen, verdrehte
ein wenig die Augen. »Ich wollte gerade Feierabend machen. Wozu
brauchen Sie denn die Sitte? Und warum gerade mich?« Der polnische
Akzent schwang noch in seinem ausgezeichneten Deutsch mit.
Leo schilderte ihm kurz die
Lage, worauf der Kollege bereitwillig in den Wagen stieg. »Scheunenviertel,
da haben wir oft zu tun. Wer wurde ermordet?«
»Eine Prostituierte.
Erna Klante.«
Stankowiak sah ihn an.
»Die alte Erna?«
»Na ja, älter als
fünfzig dürfte sie nicht gewesen sein.«
»Auf dem Strich ist das
ein biblisches Alter. Sie ist nie unangenehm aufgefallen. Kein Alkohol,
kein Rauschgift, keine Diebstähle bei Freiern. Aber wenn Frauen in
die Jahre kommen, wird es schwer für sie. Die Konkurrenz ist groß
und billig.«
»War sie immer schon in
der Gegend? Oder wissen Sie, wo sie früher angeschafft hat? Ihr
Hauswirt sagt, sie habe seit etwa drei Jahren in dem Anbau gewohnt.«
»Man munkelt, dass sie
mal in einem teuren Bordell gearbeitet haben soll. Ob man sie wegen ihres
Alters dort hinausgeworfen hat oder ob sie von selbst gegangen ist, weiß
keiner so genau. Auf mich machte sie jedenfalls nicht den Eindruck, als hätte
sie immer auf der Straße angeschafft.«
Leo steuerte den Wagen durch
die engen Straßen des Scheunenviertels. Der Fall, den Gennat als
Routine eingestuft hatte, begann ihn zu fesseln. Vielleicht lag der Grund
für den Mord auch in Erna Klantes Vergangenheit.
Er parkte auf der Straße
vor dem Innenhof und führte Stankowiak durch den Torbogen. Er machte
ihn mit Herrn Zylberstein bekannt und nahm selbst Notizbuch und Stift zur
Hand, um das Protokoll anzufertigen. In diesem Moment trat Dr. Lehnbach
aus dem Kabäuschen und wischte sich die Hände an einem Tuch ab.
»Tod durch Erdrosseln.
Dürfte achtzehn bis zwanzig Stunden her sein. Keine sichtbaren
Hautreste unter den Fingernägeln, ihr Widerstand war anscheinend
schnell gebrochen. Wir nehmen die Leiche jetzt mit, ausführlicher
Bericht folgt.«
Leo bedankte sich und wandte
sich wieder dem polnischen Lumpensammler zu, der verschreckt schien durch
die Anwesenheit der beiden Kripobeamten; er zog schützend die
Schultern hoch, als wollte er sich verkriechen. Stankowiak legte ihm
beruhigend die Hand auf den Arm und stellte einige Fragen. Der Mann
antwortete bereitwillig, als er die vertraute Sprache vernahm.
»Abraham Zylberstein,
geboren 1855 in Krakau, von Beruf Lumpensammler, wohnhaft Große
Hamburger Straße 12, Berlin«, diktierte Stankowiak.
»Fragen Sie ihn, welche
Aussage er machen möchte.«
»Er sagt, er wolle im
Mordfall Erna Klante aussagen.«
»Gut. Übersetzen
Sie bitte jeweils nach zwei bis drei Sätzen, damit ich alles
aufnehmen kann.«
Als Leo zu Ende geschrieben
hatte, las er die Aussage vor: »Ich habe Erna Klante am Abend des
24. Juni 1922 gegen neun Uhr gesehen. Sie betrat den Innenhof des Hauses
in der Linienstraße, wo sie einen kleinen Anbau bewohnte. Sie war in
Begleitung eines gutgekleideten Mannes in jungen bis mittleren Jahren. Das
habe ich aus seinem Gang geschlossen. Er trug einen braunen Sommermantel,
gut geschnitten, den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Daher kann ich
auch nicht sagen, wie er ausgesehen hat. Da ich wusste, dass Frau Klante
von der Prostitution lebte, habe ich mir nichts dabei gedacht. Erst als
ich heute die Leute im Hof stehen sah und dann noch die Polizei kam,
dachte ich mir, dass etwas passiert sein müsse.«
Leo gab Stankowiak ein
Zeichen, der Herrn Zylberstein daraufhin die Aussage auf Polnisch vorlas.
Der Lumpensammler nickte zustimmend.
»Haben Sie noch Fragen,
Herr Kollege?«, erkundigte sich Stankowiak.
Leo schüttelte den Kopf.
»Im Moment nicht. Wir haben ja die Adresse.« Er ging zu dem
Kabäuschen und schaute hinein. Robert kniete in einer Ecke und
leuchtete mit einer Lampe den Boden ab. Plötzlich pfiff er leise
durch die Zähne. »Was haben wir denn da?« Er zuckte
zusammen, als Leo ihm von hinten über die Schulter blickte, und
streckte die Hand nach oben. Ein
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