Leo Berlin
Raubmord scheidet aus. Was also ist der Grund?«
»Wir sind noch nicht
durch mit den Befragungen. Oder habt ihr heute alles geschafft?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Nur die Linienstraße. Mulackstraße, Grenadierstraße,
die ganze Ecke fehlt noch. Ach ja, Stahnke und Berns haben eine Freundin
der Toten namens Wilma Denecke aufgetrieben. Aber auch sie wusste wenig
über Erna Klantes Vergangenheit. Sie hat allerdings Dr. Lehnbachs
Syphilisgeschichte bestätigt. Die Klante hat sich vor Jahren mit
Salvarsan behandeln lassen, aber die Stelle im Bordell hat sie dennoch
verloren. Wir müssen unbedingt herausfinden, wo sie früher
angeschafft hat.«
»Du meinst, es hat
etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun?«
»Ich glaube schon. Wenn
es bekannte Feindschaften im Milieu gegeben hätte, wären Stahnke
und Berns bestimmt schon darauf gestoßen. So etwas spricht sich
herum. Auch ihre Freundin hätte sicher davon gewusst. Aber niemand
konnte einen Hinweis auf den möglichen Täter geben. Die Aussagen
von Zylberstein und Szylinski sind viel zu vage.«
»Lass uns Schluss
machen, Leo. Die Kinder warten auf dich.«
Er zwang sich zur Ruhe.
Doch es war ein Schock gewesen, als er nichtsahnend in Lehmanns Büro
gegangen war und dort einen Kriminalbeamten vorgefunden hatte. Der Name
war ihm unbekannt, in den Artikeln über Sartorius hatte er ihn nie
gelesen. Was mochte er gewollt haben? Es wäre ihm unangenehm gewesen,
Lehmann zu fragen. Vielleicht hatte der Mann ja Schwierigkeiten. Aber er
hatte völlig gelassen gewirkt.
Er zog die Handschuhe aus.
Betrachtete seine Handflächen. Die weißen Flecken wirkten
eigentlich nicht entstellend, eher wie die Folgen eines Unfalls oder einer
Verätzung. Doch ohne Handschuhe hätte er jeden Blick als
bohrende Neugier empfunden, jedes leise gesprochene Wort als Anspielung.
Er dachte ungern daran,
wie seine Hände damals ausgesehen hatten. An die roten, offenen
Stellen, die Wundmale, die sich immer tiefer ins Fleisch zu fressen
schienen. Die Schmerzen, sobald er etwas anfasste, sich die Hände
wusch, einen Mantelknopf schloss. Die Scheu, jemandem die Hand zu geben.
Er war wochenlang verreist, um Fragen auszuweichen, denn er konnte keine
Handschuhe über die offenen Wunden ziehen. Er war sich wie ein
Gezeichneter vorgekommen.
Als die Geschwüre
vernarbten, gewöhnte er sich an, nur noch mit Handschuhen in die
Öffentlichkeit zu gehen. Zuerst hatte es neugierige Fragen gegeben,
doch er spielte einfach die Rolle des Elegant, der sich in der Wahl seiner
Kleidungsstücke ein wenig exzentrisch gibt. Bald hatte niemand mehr
darauf geachtet, es wurde höchstens einmal angemerkt, wie ausgesucht
schön die meisten Exemplare seien.
In ihrem Schutz hatte er
sich Viola nähern, sich über ihre Hand beugen, sie zum Tanz
auffordern können. Er wusste, dass er als eiserner Junggeselle, wenn
nicht gar als verschroben galt. Manchmal glaubte er, die Angestellten
tuscheln zu hören, wenn er mit Umsicht und Geschmack die neuen
Damenknöpfe aussuchte. Natürlich war es Einbildung, aber er
meinte hinter seinem Rücken Stimmen zu hören, die sich über
seine offensichtliche Enthaltsamkeit lustig machten. Vielleicht neigten
sie auch zu dem Glauben, er interessiere sich mehr für Männer,
da er sich nie in Gesellschaft junger Damen zeigte und so viel Wert auf
seine äußere Erscheinung legte.
Aber er würde sie
alle Lügen strafen. Das Entsetzen, die Scham, die Einsamkeit einfach
hinter sich lassen. Jetzt erst wusste er, wie mächtig er war. Bald würde
er die Handschuhe ablegen. Und mit seinen bloßen Händen über
Violas Körper streichen, ihre weichen Brüste berühren,
ihren Bauch, ihre –
Leo kaufte sich am
Alexanderplatz eine Zeitung und stieg in den Bus Nr. 19, in dem um diese
Uhrzeit sogar Sitzplätze zu haben waren. Er setzte sich ans Fenster.
Auf der Titelseite wurde über die Debatten zum Republikschutzgesetz
berichtet, das nach dem Mord an Walter Rathenau geplant worden war und
gegen extreme politische Gruppierungen angewendet werden sollte. Ihm fiel
ein, was sein Freund Joachim Kern gesagt hatte, als sie über die
politischen Maßnahmen nach der Ermordung des Außenministers
sprachen. »Pass auf, die da oben erlassen Gesetze gegen Extreme und
wenden die dann nur gegen uns Linke an.« Das blieb abzuwarten, doch
Joachim lag wohl nicht so falsch mit seinen Befürchtungen. Leo
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