Leo Berlin
überschlug
das Hin und Her im Reichstag, das Gezerre zwischen den zahlreichen
Fraktionen, und blätterte weiter. Sein Blick fiel auf einen Artikel
im Gesellschaftsteil. MORD AN HEILER NOCH IMMER NICHT AUFGEKLÄRT.
POLIZEI TAPPT NACH WIE VOR IM DUNKELN. Leo überflog den Bericht und
faltete die Zeitung zusammen. Über dem Mord an Erna Klante hatte er
den Fall Sartorius beinahe vergessen und wurde nun unangenehm an diesen
nassen Fisch erinnert. Er beschloss, die Akten in den nächsten Tagen
noch einmal gründlich durchzuarbeiten. Manchmal entdeckte er mit
zeitlichem Abstand Dinge, die ihm vorher entgangen waren.
Der Bus hielt abrupt an,
wobei ihm eine ältere Frau beinahe auf den Schoß fiel. Sie sah
ihn wütend an, als hätte er sie unsittlich berührt. Leo
stand auf und stieg an der nächsten Haltestelle aus, die nicht mehr
weit von seiner Wohnung entfernt war.
Der Zeitungsartikel ging ihm
nicht aus dem Kopf. Im Grunde hatte er nichts dagegen, wenn sein Name in
der Zeitung erschien, bei spektakulären Mordfällen war das
üblich, doch diesmal hätte er gern darauf verzichtet. Vor allem
auf den süffisanten Nachsatz, dass er den Fall Klante hoffentlich
erfolgreicher lösen möge.
Er sah auf die Uhr. Es war
noch nicht so spät. Er würde sein Glück versuchen. Spontan
überquerte er die Straße und stieg in die nächste Bahn.
Leo stand erneut vor der Tür
der Galerie Reichwein. Es brannte noch Licht. Er hätte Elisa
Reichwein ebenso gut anrufen können, aber die Vorstellung, noch
einmal den schönen Raum mit den faszinierenden Bildern zu betreten,
hatte ihm keine Ruhe gelassen.
Ein junger Mann mit dunklem
Haar und gelacktem Bärtchen öffnete die Tür. Ein wenig enttäuscht
stellte Leo sich vor und erkundigte sich nach Frau Reichwein.
»Mein Name ist Melotti,
ich bin ihr Assistent«, sagte er mit leichtem italienischem Akzent.
»Kommen Sie bitte mit, Herr Kommissar.«
Elisa Reichwein telefonierte
gerade in einer Ecke des großen gelben Raums, blickte aber lächelnd
auf, als sie die Schritte der beiden Männer hörte. »Ich
rufe nachher noch einmal an. Adieu, Liebes«, sagte sie und hängte
den Hörer auf die Gabel. Heute trug sie ein fließendes rotes
Gewand mit goldenen Ornamenten, in dem sie wie eine Geisha aussah. Auch
ihre Frisur und die porzellanweiße Haut unterstrichen den
japanischen Eindruck.
»Haben Sie etwa geerbt,
Herr Kommissar?«, fragte sie mit einem Blick auf die Bilder.
»Leider nicht. Aber ich
wollte die Gelegenheit nutzen und sie mir noch einmal ansehen«,
meinte Leo. »Kommen Sie doch mit.« Langsam schlenderten sie
von Bild zu Bild. Elisa Reichwein spürte genau, welche Werke ihrem
Gast besonders gefielen, blieb davor stehen und gab eine kurze Erläuterung.
»Das ist anonym«,
sagte sie, als Leo vor einem kleinen quadratischen Gemälde stehen
blieb, das eine junge Frau auf einer Bettkante zeigte. Sie saß ganz
still da, nicht sinnlich, sondern verloren und in sich gekehrt. Irgendwie
rührte sie Leo an.
»Es passt nicht zu den
anderen, aber es hat mir gefallen. Der Mann, der es mir gebracht hat,
sagte, er habe es auf einem Dachboden gefunden. Ich habe ihm nicht so
recht geglaubt. Vielleicht hatte er es selbst gemalt. Jedenfalls brauchte
er dringend Geld, also habe ich es ihm abgekauft.«
»Das war großzügig
von Ihnen«, meinte Leo. »Sie können sicher nicht sehr
viel dafür verlangen, wenn es nicht signiert ist.«
»Stimmt, ich habe es
aus einer Laune heraus gekauft. Aber«, sie sah ihn prüfend von
der Seite an, »es kommt auch darauf an, wie viel es einem wert ist.«
Leo hatte den Wink
verstanden. »Ich denke drüber nach. Eigentlich bin ich aber
wegen einer anderen Sache hier. Mir ist noch eine Frage zum Fall Sartorius
eingefallen, und es kam mir vor, als hätten Sie ihn ziemlich gut
gekannt. Jedenfalls waren Ihre Aussagen besonders hilfreich.«
»Sie haben den Mörder
noch nicht gefunden?«
»Nein. Vor allem
deshalb nicht, weil uns das Motiv fehlt. Daher meine Frage: Wissen Sie, ob
Sartorius zu Prostituierten ging?«
Elisa Reichwein sah ihn
überrascht an. »Das glaube ich kaum. Ich meine, er hatte es
eigentlich nicht nötig. Die Frauen fanden ihn reizvoll, sie liefen
ihm geradezu nach. Er brauchte nur zuzugreifen.«
»Und wenn er nun
gewisse, hm, Praktiken bevorzugte, die Frauen gewöhnlich nicht schätzen?«,
fragte Leo
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