Leo Berlin
weiße Flecken zu
erkennen. Er schaltete die Lampe aus. »Du kannst den Mund wieder
zumachen, Liebes.« Er setzte sie neben sich und stand auf. »Du
hast wohl eine Mandelentzündung. Aber wir müssen dich im Auge
behalten. Du schläfst heute Nacht am besten bei mir. Und wenn es
morgen früh nicht besser ist, gehen wir zum Arzt.«
Ilse nickte. »Bring du
sie ins Bett.« Ihre Feindseligkeit war der Sorge um Marie gewichen.
»Soll ich ihr einen Umschlag machen?«
»Das wäre sicher
gut.«
Sie gingen zusammen in die Küche,
wo Ilse ein Küchenhandtuch auf dem Tisch ausbreitete und mit Quark
bestrich. »Der war eigentlich für die Pellkartoffeln, aber die
können wir auch mit Margarine essen«, sagte sie über die
Schulter. Leo goss sich ein Glas Bier ein und trat ans Fenster. »Anstrengender
Tag?«
Überrascht drehte er
sich um. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr nach seiner Arbeit gefragt.
»Ja, wir sind durchs Scheunenviertel gelaufen. Viel Mühe, bei
der wenig herausgekommen ist. Und morgen geht es weiter. Wir untersuchen
den Mord an einer Prostituierten.«
»Ist die Gegend
wirklich so . . . anrüchig?«, erkundigte sich Ilse vorsichtig.
»Na ja, wohnen möchte
ich dort nicht. Enge Gassen, dunkle Höfe, zwielichtige Kneipen. Aber
mittendrin gibt es viel Leben, Geschäfte, Synagogen, Schulen,
Kabaretts. Man kann das Viertel nicht insgesamt als kriminell abtun. Es
ist ungeheuer vielfältig. So viele unterschiedliche Menschen. Das
macht die Ermittlungen allerdings nicht gerade einfacher.«
Aus dem Wohnzimmer drang
wieder der bellende Husten. Ilse nahm den Umschlag und ging zu Marie, die
sich mit beiden Händen den Hals hielt. »Beim Husten tut es auch
weh.«
»Pass auf, gleich wird
es kalt.« Marie keuchte laut, als sie den kalten Quark am Hals spürte.
Ilse bedeckte den Umschlag noch mit einem warmen Tuch. »Morgen geht
es dir bestimmt besser. Trink deinen Tee aus, dann bringt Papa dich ins
Bett.«
Leo nahm Marie wieder auf den
Schoß und las ihr das Märchen von den Sterntalern vor, das
Marie besonders gern mochte. Irgendwann drückte ihr Kopf schwer gegen
seine Schulter, sie war eingeschlafen. Sanft schlug er die Decke
auseinander und trug sie in sein Schlafzimmer, wo sie sich wie ein Igel
unter dem Federbett einrollte. Er schaute noch eine Weile auf sie hinunter
und ging dann ins Wohnzimmer, wo er in einer Kunstzeitschrift blätterte.
Doch er konnte sich nicht auf die abgebildeten Werke oder die Berichte zu
den Ausstellungen konzentrieren, weil immer wieder die blutbefleckte
Buddhafigur vor seinen Augen auftauchte. Der verdammte Artikel hatte seine
Unzufriedenheit aufs Neue entfacht. Schließlich ging er ins Bad,
nahm den Hemdkragen ab und legte ihn auf die Fensterbank. Er fuhr sich
über die kratzigen Bartstoppeln, wusch sich Gesicht und Hände,
putzte sich die Zähne und ging in sein Schlafzimmer.
Leo war gerade eingeschlafen,
als er von einem seltsamen Geräusch erwachte. Ein langgezogenes
Keuchen, das er zunächst nicht einordnen konnte. Dann tastete er mit
der Hand nach rechts und berührte einen kleinen Hügel unter der
Decke. Marie. Ruckartig setzte er sich auf und schaltete die
Nachttischlampe ein. Seine Tochter lag auf dem Rücken, die Augen weit
geöffnet, und rang mühsam nach Luft.
Er schwitzte am ganzen Körper,
sein Pyjama war feucht, die Decke lag zusammengeknüllt am Fußende
des Bettes. Verstört setzte er sich auf und lehnte sich ans
geschnitzte Kopfende, dessen Ornamente sich unangenehm in seinen
Hinterkopf bohrten. Jetzt war er endgültig wach, zum Glück. Der
Traum war so real gewesen, dass er seine Hände im Licht der
Nachttischlampe betrachtete und staunte, dass sie sich nicht verändert
hatten.
Er hatte bei einem
festlichen Abendessen neben Viola gesessen. Gerade als er sein
Chateaubriand anschneiden wollte, war die erste Wunde auf seinem linken
Handrücken erschienen. Ein hässlicher roter Fleck, wie rohes
Fleisch. Gut, dass Viola rechts von ihm saß. Doch dann veränderte
sich auch seine rechte Hand. Und es wurden immer mehr Flecken, sie
breiteten sich über seine Handgelenke aus, krochen unter die
Manschetten, die Arme hinauf bis zu den Schultern.
Violas Blick brannte heiß
an seiner Schläfe, er wagte nicht, den Kopf zu drehen. Seltsam, die
anderen Gäste schienen nichts zu bemerken, sie aßen und
plauderten ungerührt weiter. Sie
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