Leo Berlin
beide waren allein, wie auf einer
Insel, während das Gelächter ans Ufer brandete. Und als er
endlich wagte, sie anzuschauen, war auch sie mit roten Wunden übersät
und sah ihn anklagend an. »Du hast mir nichts davon gesagt.«
Aber, wollte er sich
selbst beruhigen, das alles war Unsinn, nach so langer Zeit war es nicht
mehr ansteckend, unmöglich. Und es war noch nichts geschehen, er
hatte sie niemals so – berührt.
Und doch war er erschüttert.
Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches geträumt. Nicht vor Viola und
auch nicht, nachdem er ihr begegnet war. Nie war die Krankheit in seine Träume
vorgedrungen, selbst wenn sie ihn im Wachzustand unablässig beschäftigt
hatte. Dort war er immer sicher vor ihr gewesen. Bis heute. Er presste die
Hände an die Schläfen, um den plötzlichen Kopfschmerz zu
vertreiben.
Einen Augenblick war Leo wie
erstarrt, dann hob er Marie auf den Schoß und drückte sie an
sich. Hohes Fieber schien sie nicht zu haben, aber er konnte nicht bis zum
Morgen warten. Rasch trug er das Mädchen ins Wohnzimmer, zog sich an
und klopfte an Ilses Zimmertür. Sie meldete sich mit verschlafener
Stimme. »Ja, was ist?«
Er öffnete die Zimmertür
und steckte den Kopf hinein. »Ich muss mit Marie ins Krankenhaus,
sie bekommt kaum noch Luft.«
Ilse sprang aus dem Bett und
warf einen Morgenrock über. Im Licht der Dielenlampe, mit
unfrisiertem Haar und verquollenen Augen, sah sie um Jahre älter aus.
»Willst du nicht bis morgen früh warten?«
»Nein«,
entgegnete Leo barsch. »Wir haben lange genug gewartet.« Es
war deutlich herauszuhören, dass er eigentlich »du«
meinte.
Ilse schluckte. »Natürlich.«
»Vielleicht wolltest du
ja mit deinem Freund spazieren gehen. Seid ihr deshalb in den Park
gegangen, obwohl Marie krank war?«
»Du bist ungerecht, Leo«,
sagte sie mit blassem Gesicht, aber in festem Ton.
Er tat ihre Worte mit einer
Handbewegung ab. »Ich rufe dich an, sobald ich etwas weiß. Hol
etwas anzuziehen für Marie.«
Ilse eilte ins Kinderzimmer
und kam mit einem Kleid und einer Strickjacke zurück, die sie dem verängstigten
Kind rasch und geschickt überzog. Dann drückte sie Marie an
sich, legte sie in die ausgestreckten Arme ihres Bruders und wickelte sie
fest in eine Decke. »Sag mir ganz schnell Bescheid«, flüsterte
sie und wandte sich abrupt ab.
Es war drei Uhr morgens, als
Leo mit dem eingewickelten Kind auf die menschenleere Straße trat.
Marie war eingenickt, doch der beängstigende Husten riss sie immer
wieder aus dem Halbschlaf. Leo bog in die Turmstraße ein und merkte
allmählich, dass Marie gar nicht so leicht war. Jeder Schritt wurde mühsam,
das Kind in seinen Armen schien schwer wie Blei, seine Schultern
schmerzten vor Anspannung. Um diese Zeit war niemand zu sehen außer
einem Bäcker, der gerade die Backstube aufschloss, und einem späten
Heimkehrer, der zu betrunken schien, um die eigene Haustür zu finden.
Leo war froh, als zu seiner Linken endlich die weitläufige Anlage mit
den roten Backsteingebäuden auftauchte. Gleichzeitig spürte er
einen Druck im Magen. Das letzte Mal war er hier gewesen, um Dorotheas
Sachen abzuholen. Ein kleines Häufchen persönlicher Gegenstände,
seltsam verloren auf dem kalten weißen Bett.
Er verdrängte die
Erinnerung und trat in das Gebäude, in dem sich die Anmeldung befand.
»Notfall?«, fragte die Schwester hinter dem Tresen knapp.
»Ja. Meine Tochter
bekommt keine Luft und hustet schlimm.«
Die Frau notierte seine
Personalien und bat ihn, Platz zu nehmen. Die Zeit schien zäh
dahinzukriechen, der Uhrzeiger auf der Stelle zu verharren, während
er mit Marie auf dem harten Holzstuhl wartete.
Endlich erschien ein übernächtigt
wirkender Arzt, der ihn knapp, aber freundlich begrüßte.
»Seit wann geht das so?«
»Die Atemnot kam erst
heute Nacht. Halsschmerzen hat sie seit ein paar Tagen.«
Der Arzt führte ihn in
ein Untersuchungszimmer. Auf der Liege sah Marie klein und ängstlich
aus. Leo hielt ihre kalte Hand, während der Arzt in ihren Hals
leuchtete, Brust und Rücken abhörte und schließlich in
ernstem Ton sagte:
»Dringender Verdacht
auf Diphtherie. Der Kehlkopf ist auch befallen, daher der Husten. Wir müssen
sie hier behalten.«
Um ein Haar hätte Leo
nein gesagt. Nein, hier stirbt man. Doch er beherrschte sich. »Wie
schlimm ist es?«
»Sie muss unbedingt
unter Aufsicht
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