Leo Berlin
bleiben. Das Gefährliche ist die innere Schwellung des
Halses, die müssen wir unbedingt bekämpfen. Außerdem kann
die Krankheit auf innere Organe übergreifen, was zu schweren
Komplikationen führt. Sie darf in der nächsten Zeit auch keinen
Besuch erhalten.«
Leo sah ihn entgeistert an.
»Ich darf überhaupt nicht zu ihr?«
Der Arzt nickte bedauernd.
»Die Isolation ist wegen der Ansteckungsgefahr erforderlich. Sollten
Sie oder Ihre Familie in den kommenden Tagen ähnliche Symptome verspüren,
müssen Sie sich umgehend bei uns vorstellen.«
Leo nickte wie betäubt.
»Kann ich sie denn . . . irgendwie sehen?«
»Sie dürfen durchs
Fenster hineinschauen. Verabschieden Sie sich jetzt bitte, Herr Wechsler.«
Leo hob Marie von der Liege
hoch. Sie sah ihn an und flüsterte: »Der Doktor hat gesagt, ich
muss hier bleiben?«
Er nickte. »Damit du
schnell wieder gesund wirst. Wir dürfen dich besuchen, aber nur
durchs Fenster. Malst du mir dann mit Atem ein Bild an die Scheibe?«
Sie nickte, und Leo spürte,
wie sie um seinetwillen ihre Angst unterdrückte. Dann drückte er
sie noch einmal fest an sich und ging zur Tür, um den Abschied nicht
unnötig hinauszuzögern. Bevor er die Klinke niederdrückte,
hörte er ihre leise Frage: »War Mama auch hier?«
Er biss sich auf die
Unterlippe und drehte sich um. »Ja. Aber sie war viel schlimmer
krank als du. Große Mädchen wie du kommen bald wieder nach
Hause.«
Mit diesen Worten ging er
hinaus.
Seine Schwester erwartete ihn
an der Wohnungstür, hinter ihr stand Georg und schaute ihn angstvoll
an. Als Leo Ilse sah, keimte wieder irrationale Wut in ihm auf, für
die er sich sofort schämte, doch er brachte keine Entschuldigung
über die Lippen.
Ilse zog fröstelnd den
Morgenmantel enger und fragte drängend: »Was hat sie? Musste
sie dort bleiben?«
»Vermutlich Diphtherie.«
Er zog müde den Mantel aus und hängte ihn an den
Garderobenhaken.
»Ist das sehr schlimm?«,
fragte Georg scheu.
»Sie kommt auf eine
Isolierstation, damit sie niemanden ansteckt«, sagte Leo schleppend.
»Wir dürfen sie erst mal nur durchs Fenster sehen.« Er
legte Georg den Arm um die Schultern und führte ihn zurück ins
Kinderzimmer. Als der Junge im Bett lag, strich Leo ihm sanft über
den zerzausten Schopf und ging hinaus.
Ilse stand reglos im Flur.
»Es war furchtbar, sie
dort allein zu lassen. Ich musste an Dorothea denken.« Mit diesen
Worten ging er in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Er
ließ Hemd und Hose an, zog nur die Schuhe aus und legte sich hin.
Schlafen konnte er in dieser
Nacht nicht mehr.
Der Traum verfolgte ihn
gnadenlos, so dass er sich nicht einmal mit Arbeit ablenken konnte.
Eigentlich unverständlich, da es doch schon so lange zurücklag.
Auch waren die Geschwüre bei weitem nicht so schlimm gewesen wie in
seinem Traum. Und die Erholungsreise nach Italien hatte verhindert, dass
irgendjemand in Berlin davon erfuhr.
Dennoch kam es ihm
letzthin manchmal vor, als schauten ihn die Angestellten seltsam an. Er fürchtete
schon, sie könnten ihm den Traum vom Gesicht ablesen. Blickte eine
Sekretärin auf seine verhüllten Hände, verbarg er sie
unwillkürlich im Schoß. Diese Unsicherheit hatte er seit Jahren
nicht erlebt.
Damals schon. Als er die
ersten Zeichen an seinem Körper feststellte, aber nicht zu deuten
wusste. In Bereichen, die so intim waren, dass er mit niemandem darüber
sprechen konnte, nicht einmal mit einem Arzt. Er spürte die prüfenden
Blicke seiner Mutter und zog sich immer mehr in sich zurück. Eine
unsichtbare Hülle schien ihn von der Außenwelt zu trennen.
Viele Brücken gab es
nicht abzubrechen. Die Freunde, die sein Vater ihm aufgedrängt hatte
und durch die er in diese furchtbare Lage geraten war, waren im Krieg
gefallen.
Nach einiger Zeit
verschwanden die Knoten. Er schöpfte Mut, fühlte sich genesen.
Als er einige Monate später an einer Art Grippe erkrankte, hatte er
keinerlei Verbindung hergestellt.
Danach folgten gute Jahre,
in denen er die Nachfolge seines Vaters in der Fabrik antrat. Bald darauf
starb auch seine Mutter, deren Zuneigung er zuletzt mehr und mehr als
Umklammerung empfunden hatte. Als er Viola kennen lernte, war sein Glück
vollkommen.
Doch dann behauptete der
Heiler, er sei mit dieser unaussprechlichen Krankheit behaftet.
Und jetzt –
Leo packte das Bild aus. Er
Weitere Kostenlose Bücher