Leo Berlin
dritten Mal durchgelesen, ohne neue
Erkenntnisse zu gewinnen. Er klappte sie entschlossen zu und bot
Stankowiak einen Stuhl an.
»Gibt es etwas Neues?«
»Hier ist die Liste mit
den Ärzten, die unseres Wissens Prostituierte behandeln. Es sind
nicht gerade wenige. Bei den ganzen Geschlechtskrankheiten heutzutage dürfte
es ein einträgliches Geschäft sein.« Er schob Leo eine
maschinengeschriebene Liste mit den Namen von etwa vierzig Ärzten
hin. »Soll ich mich darum kümmern?«
»In Ordnung. Sie wissen
ja, worum es geht. Wann ist sie erkrankt, wie lange war sie krank, wie
wurde sie behandelt und so weiter.«
Stankowiak stand auf. »Gehen
wir heute Abend noch mal ins Scheunenviertel?«
»Ja, um sechs.«
Stankowiak lächelte.
»Da bin ich gern dabei.«
Mit diesen Worten verschwand
er im Vorzimmer.
Der Mann war ihm im Flur
aufgefallen. Groß, dunkelhaarig, markante Narbe an der Schläfe.
Er bewegte sich selbstsicher, wirkte aber nicht wie ein Geschäftspartner
oder Kunde, hatte weder Aktentasche noch Musterkoffer dabei. Da er gern
wusste, was in seiner Firma vorging, war er später in Lehmanns
Vorzimmer gegangen und hatte sich bei Fräulein Merkert beiläufig
nach dem Besuch erkundigt.
Schon wieder die
Kriminalpolizei. Doch diesmal kannte er den Namen. Aus der Zeitung.
Als Leo mittags ins
Krankenhaus kam, erkundigte er sich nach der Station, auf der Marie
untergebracht war. Eine freundliche Schwester zeigte ihm den Weg.
Beklommen folgte er ihr durch die langen Flure, bis sie vor einer Tür
mit der Aufschrift ISOLIERSTATION ankamen. »Weiter dürfen Sie
leider nicht. Hier geht es nach draußen auf den Balkon, Ihre Tochter
liegt im dritten Zimmer auf der rechten Seite.«
Trotz der sommerlichen Wärme
fröstelte ihn, als er vor der Glasscheibe stehen blieb und in das spärlich
eingerichtete Zimmer spähte. Marie lag im Bett, den Kopf auf einem
dicken Kissen, das ihr das Atmen erleichtern sollte. So hatte es ihm die
Schwester jedenfalls erklärt. Im Arm hielt sie die Puppe Gretel, die
er noch vor dem Dienst vorbeigebracht hatte. Marie wirkte klein und schmächtig.
Er klopfte vorsichtig ans
Fenster. Sie drehte den Kopf und lächelte, als sie ihn sah. Ein
winzig kleines Lächeln, gar nicht wie sonst. Sie zeigte auf ihren
Hals. Natürlich, er tat weh.
Ihm war, als zerfiele die
Welt vor seinen Augen. Gestern noch war alles sicher und vertraut gewesen,
trotz der Spannungen mit Ilse. Nach Dorotheas Tod hatte er sich in seinem
neuen Leben eingerichtet. Doch als er Marie jetzt hinter der Scheibe sah,
so unendlich fern, schien auf einmal nichts mehr sicher.
Leo wusste nicht, wie lange
er dort gestanden hatte. Er winkte Marie noch einmal, und sie hob schwach
die Hand. Beim Gehen würgte es ihn im Hals.
Auf dem Flur passte er den
Arzt ab, der Marie letzte Nacht aufgenommen hatte.
»Wie steht es um sie?«,
fragte er drängend.
Der Arzt führte ihn in
eine Nische. »Ich bin leider sehr in Eile. So schnell ist natürlich
keine Besserung zu erwarten, Herr Wechsler. Und es kann eine Weile dauern,
bis das Antitoxin anschlägt. Das ist leider alles für den
Moment.«
Er wollte gehen, doch Leo
hielt ihn am Arm fest. Er wusste, dass er nicht vernünftig handelte,
aber das war ihm egal. »Und was geschieht, wenn das Mittel nicht
wirkt?«
»Ich bitte Sie, wir
wollen das Beste hoffen. Sie sollten sich nicht mit diesen Fragen quälen.«
»Ich bin Polizist und
daran gewöhnt, Fragen zu stellen. Und Antworten zu bekommen.«
»Es gibt nicht mehr zu
sagen. Sie können sich jederzeit nach dem Zustand Ihrer Tochter
erkundigen, aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen.«
Mit diesen Worten verschwand
er in einem Krankenzimmer.
Leo verfluchte seine
Unbeherrschtheit und machte sich auf in Richtung Ausgang.
Er hatte Ilse seit seiner Rückkehr
aus dem Krankenhaus in der Nacht nicht gesehen. Sie hatte ihm zum ersten
Mal überhaupt kein Frühstück gemacht und war in ihrem
Zimmer geblieben. Beim Weggehen hatte er ihr durch die geschlossene Tür
mitgeteilt, er werde Marie die Puppe und frische Wäsche bringen. Sie
hatte knapp erwidert, sie wolle das Kind am Vormittag besuchen. Leo kam
sich ungewohnt allein vor. Er freute sich geradezu auf den Abend. Die
Arbeit würde ihn wenigstens vom Grübeln abhalten.
Beim Verlassen der Wohnung
kam ihm noch ein flüchtiger Gedanke: Marlen. Mit ihr konnte er reden.
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