Leo Berlin
mitten
in der Nacht.«
Sie trat vom Fenster zurück
und lehnte sich an die Brüstung. »Ich will keine
Entschuldigungen hören. Dass du bei einer Frau warst, geht nur dich
etwas an. Einer Frau, von der ich im Übrigen nichts halte, aber das
nur nebenbei.«
»Wie du schon sagtest,
Marlen geht dich nichts an.«
»Und was ist mit meinen
Bekannten?«, begehrte sie auf. »Was war mit dem Nachmittag, an
dem ich verabredet war und du ins Präsidium gegangen bist, obwohl du
gar keinen Dienst hattest?«
Er hatte geahnt, dass sie früher
oder später noch einmal damit anfangen würde. »Es war
nicht richtig, aber ich habe mich bereits dafür entschuldigt. Wie oft
soll ich es noch tun?«
»Du sollst dich nicht
ständig entschuldigen, sondern einfach anders verhalten, Leo.«
Sie nannte ihn so selten beim Namen, dass er beinahe zusammengezuckt wäre.
Er schaute unwillkürlich durchs Fenster zu Marie und hoffte, dass sie
nichts von der Auseinandersetzung mitbekam. Ilse war für sie mehr als
eine Tante, da Marie ihre Mutter fast nicht gekannt hatte. Ein Streit
zwischen ihr und dem Vater würde sie gewiss verunsichern.
»Sie hört uns
nicht. Zum Glück.«
»Was heißt hier
zum Glück? Wir können gern aufhören zu streiten«,
sagte Leo, den allmählich ebenfalls die Wut überkam. Warum
musste er sich ständig rechtfertigen?
»Das wäre ja so
einfach, nicht?«, versetzte Ilse. »Ein paar schöne
Kartoffeln, eine Tafel Schokolade, schon ist die alte Ilse ruhig. Das hast
du als Kind schon so gemacht. Wenn du etwas ausgefressen hattest und ich
den Kopf dafür hinhalten musste, kamst du nachher mit einem Zuckerwürfel
angeschlichen. Du bist unverbesserlich.«
»Jetzt reicht es. Falls
du vorhast, unsere gesamte Kindheit hervorzukramen, gehe ich lieber
gleich. Ich habe auch ein Leben außerhalb der Arbeit. Ich bin
vierunddreißig Jahre alt und nicht nur Polizist, nicht nur Vater.«
Er hauchte Marie einen Kuss durchs Glas zu und machte auf dem Absatz
kehrt, doch Ilse rief ihm noch hinterher: »Und ich bin nicht nur
dein Kindermädchen und deine Haushälterin, Leo.«
Ilse hatte das letzte Wort
behalten. Genau wie früher. Und das Schlimme war: Sie hatte Recht.
Er saß an der
Entwicklung einer neuen Kollektion von Damenknöpfen. Jünger
sollte sie sein, aber nicht gewöhnlich. Lindgrün, Zartrosa,
sonniges Gelb – die graue Zeit brauchte lebhafte Farben. Das
Zeichnen hatte er sich selbst beigebracht. Nicht dass er so begabt gewesen
wäre wie seine Modezeichner, doch es reichte, um den Gestaltern
begreiflich zu machen, was er sich vorstellte. Bei dieser Arbeit vergaß
er oft alles um sich herum.
Als sein Chefgestalter
Behnke nach höflichem Klopfen eintrat, schaute er kaum hoch, sondern
winkte den Angestellten zu dem großen Tisch am Fenster. Unwillig
rieb er sich dabei den rechten Arm, um das hartnäckige Kribbeln zu
vertreiben.
Behnke sah ihn ein wenig
verwundert an. »Haben Sie Beschwerden, Herr Direktor?«
»Mir ist nur der Arm
eingeschlafen«, entgegnete er knapp. »Hier, ich habe eine neue
Idee für eine Damenkollektion. Damit möchte ich auch jüngere
Frauen ansprechen. Als Material wollte ich Kunststoffe einsetzen,
vielleicht auch Bein und Perlmutt.«
Als Behnke kurz darauf
»Welcher Wechsel, bitte?« fragte, sah er den Gestalter verständnislos
an.
»Was reden Sie da,
Behnke?«
»Verzeihung, aber
Sie sagten etwas von einem Wechsel.«
»Da müssen Sie
sich verhört haben«.
Abrupt wandte er sich ab,
um seine Verwirrung zu verbergen. Er spürte, wie ihm sein Ich auf
einmal zu entgleiten drohte. Eben noch hatte er sich so zuversichtlich gefühlt,
und schon meinte er, Mitleid und Unverständnis im Blick des anderen
zu lesen.
»Wie Sie meinen.«
Und dann: »Ist Ihnen nicht gut? Ihre Augen, Herr Direktor –«
Er schüttelte den
Kopf. Mit seinen Augen war alles in Ordnung, er sah den feinsten Strich
auf dem Papier. Nur der Arm wollte nicht so recht, war immer noch ein
wenig taub.
»Kommen Sie um eins
wieder, Behnke. Ich fahre noch einmal weg.«
Im Büro waren die
Nachrichten erfreulicher. Die Kollegen in Potsdam hatten einen Goldschmied
gefunden, der sich an die Brosche erinnerte, obwohl seit der Anfertigung
so viel Zeit vergangen war. »Tatsächlich in der Nähe
gekauft, wie wir dachten«, sagte Leo zu Robert und deutete auf den
Zettel mit der Anschrift des
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