Leo Berlin
Angehörige erpressbar werden, wenn sie, wie soll ich
sagen, sexuell ein wenig aus der Art schlagen.«
»Das haben Sie nett
gesagt. Und es klingt richtig spannend. Hat die Person, die Sie suchen,
mit Gabriel Sartorius zu tun gehabt?«
»Sie müssen
einander jedenfalls gekannt haben.«
»Lassen Sie mich überlegen.«
Ihr Schweigen schien unendlich lange zu dauern. »V als
Anfangsbuchstabe eines Vornamens ist bei Männern eher selten, da fällt
mir eigentlich nur Viktor ein. Ja, Viktor von Dreesen, der könnte es
gewesen sein.«
»Gewesen sein?«
»Er hat vor einem Jahr
Selbstmord begangen. Hat sich im Landwehrkanal ertränkt. Fiel wohl
nicht in Ihre Zuständigkeit. Er war Besitzer eines großen
Warenhauses und gehörte eigentlich zur guten Gesellschaft, aber er
umgab sich gern mit Künstlervolk. Und mit schillernden Gestalten wie
Sartorius.«
»Kannten Sie ihn persönlich?«
»Nur flüchtig.«
»Wissen Sie, warum er
sich das Leben genommen hat?«
»Nicht genau. Natürlich
wurde viel geklatscht, nach seinem Tod hieß es auch, er habe
eigenartige sexuelle Neigungen gehegt. Aber Näheres wurde nie
bekannt.«
»War er verheiratet?«
»Ich glaube schon.
Irgendjemand sagte damals beiläufig zu mir, wie furchtbar es für
seine Frau und die Kinder sein müsse.«
Leo schaute auf seinen
Zettel. »Und was ist mit P. W. und M. E.? Können Sie sich
vorstellen, wer sich dahinter verbirgt?«
»Soll das ein Ratespiel
sein?«, fragte sie lachend. Dann herrschte Schweigen am anderen
Ende, bis sie sich wieder mit ihrer tiefen Stimme meldete: »Tut mir
leid, Herr Kommissar, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Falls mir noch
etwas einfällt, rufe ich Sie an.«
»Frau Reichwein, ich
bin Ihnen wie immer ungeheuer dankbar.«
»Sie können mir
danken, indem Sie mich gelegentlich noch einmal besuchen, Herr Kommissar.
Ich bin gespannt, was ich demnächst in der Zeitung über den Fall
Sartorius lesen werde. Au
revoir .«
Er hängte ein. Es
passte, auf einmal passte es tatsächlich zusammen. Bestimmt hatte
Sartorius von Dreesen erpresst und gedroht, seiner Familie oder sogar
einer breiten Öffentlichkeit die masochistischen Rituale zu
offenbaren, denen er anhing. Also war er doch nicht nur der Heiler ohne
Fehl und Tadel gewesen, der gute Mensch, als den ihn seine Haushälterin
empfunden hatte, sondern hatte die intimen Gespräche mit seinen
Patienten genutzt, um zu entscheiden, bei wem sich ein Erpressungsversuch
lohnte.
Dann überkamen ihn
wieder Zweifel. Natürlich lieferte die verschlüsselte
Aufstellung für sich noch kein Mordmotiv. Verena Moltkes Familie
zeigte wenig Interesse an ihrem Schicksal, daher war es fraglich, ob ein
Erpressungsversuch bei ihren Angehörigen überhaupt Sinn gehabt
und damit Anlass zu der Tat gegeben hätte.
Bei Familie von Dreesen
schien das Motiv zwar klarer, dafür lag der Tod des Mannes bereits
ein ganzes Jahr zurück. Eine Kurzschlusshandlung kam somit nicht in
Frage. Dennoch, er würde die Familie aufsuchen müssen, selbst
wenn er damit schmerzliche Erinnerungen aufrührte.
Er stellte den Stuhl an den
Tisch, machte sich im Bad fertig, schaute noch einmal bei Georg hinein,
der sich im Kinderzimmer zunehmend allein fühlte und seine Schwester
herbeisehnte, und ging zu Bett.
Er hatte sich in seinem
Schlafzimmer eingeschlossen, einen Stuhl vor die Tür geschoben, damit
ihn niemand überraschte, und war dabei, seine Handschuhe zu
zerschneiden. Die ganze kostbare Sammlung. Wildleder, Glacé,
feinster Stoff, alles fiel der Schere zum Opfer. Sein innerer Aufruhr
stand im Gegensatz zu der Präzision, mit der er sein Zerstörungswerk
vollbrachte. Alles, alles musste weg.
Er suchte nach den
Katalogen der Maßateliers, zerriss Zeichnungen von Fräcken,
Zylindern, weißen Hemden und Bindern, Brautkleidern, Schleiern und
Haarkränzen, trat darauf herum, als wollte er sie zu Brei zermalmen.
Sein Atem ging schwer, sein Arm pochte taub, das Gefühl der Fremdheit
zog sich bis in die Schulter hinauf. Egal. Es musste weg. Alles.
Als er wieder zu sich kam,
räumte er auf. Stopfte die Fetzen der Handschuhe in einen
Kleidersack, dazu das zerrissene Papier, und trug alles in den Keller.
Keuchend lehnte er sich gegen die Tür. Hoffentlich begegnete er auf
dem Weg nach oben keinem Dienstboten.
Er kehrte ins Schlafzimmer
zurück und sank aufs Bett.
Martin Moltke bot Robert
einen
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