Leo Berlin
da er anscheinend der Bekannte irgendeines Bekannten
war, aber sie wollte ihm auch nicht nachspionieren.
Danach hatten sie sich einmal
zum Tee verabredet, was Leo gar nicht gemerkt hatte, und er hatte ihr
einen kleinen dezenten Blumenstrauß überreicht, den sie ihrem
Bruder gegenüber als Geschenk an sich selbst ausgegeben hatte. Die nächste
Verabredung war schon der geplatzte Sonntagsspaziergang gewesen.
Nervös schaute sie
erneut aus dem Fenster. Und da war er tatsächlich, hob den Kopf, sah
sie am Fenster stehen und winkte. Sie machte ihm ein Zeichen, holte rasch
ihre Handtasche, zog die Wohnungstür hinter sich zu und sprang
beinahe die Treppe hinunter.
Eine Frau fegte gerade den
Hausflur. Leo grüßte freundlich, wies sich aber nicht aus. Er
wollte ganz ungestört bleiben. Sartorius’ Wohnung war von der
Polizei noch nicht freigegeben worden, zum Glück, wie er nun dachte,
sonst hätte man schon sämtliche Besitztümer abgeholt,
verschenkt und verkauft, womit vermutlich jede Aussicht, die Liste zu
entschlüsseln, dahingewesen wäre. Außer dem Geräusch
des Besens auf den Fliesen war im Haus kein Laut zu hören.
Er ging in den ersten Stock
hinauf und bewunderte wie schon beim ersten Mal das schöne hölzerne
Geländer und die erlesenen Stuckarbeiten. Er entfernte das Siegel,
schloss die Tür auf und betrat die Wohnung, in der eine beinahe
greifbare Stille herrschte. Im Wohnzimmer zeugte nur noch die
Kreidemarkierung von dem Verbrechen, das hier geschehen war, die Mordwaffe
befand sich bei den Asservaten im Präsidium. Er zog sein Jackett aus
und hängte es über eine Stuhllehne. Dann sah er sich um. In
diesem Raum gab es nur wenige, dafür umso prächtigere Bücher,
die aufgeschlagen in einem großen Regal standen. Es handelte sich um
kostbare chinesische Bände, in Seide gebunden und von Hand
illustriert. Er hob einen davon heraus, legte ihn auf einen Tisch und blätterte
vorsichtig darin, obwohl er annahm, dass Sartorius kein Chinesisch gekonnt
und deshalb den Kode auch nicht nach diesem Buch gewählt hatte.
Hoffentlich, fügte er in Gedanken hinzu, sonst mussten sie jemanden
auftreiben, der die Sprache beherrschte.
Die Abbildungen ließen
auf ein medizinisches Werk schließen. Eine menschliche Gestalt war
wie eine Landkarte beschriftet, sämtliche Körperteile waren mit
Punkten versehen, von denen Linien zu inneren Organen führten.
Faszinierend, dachte er, aber leider nicht sehr hilfreich.
Leo stellte das Buch ins
Regal zurück. Es gab weitere chinesische Nachschlagewerke, dazu noch
einige, die indischen und persischen Ursprungs zu sein schienen. Hier kam
er nicht weiter.
Er ging ins Arbeitszimmer,
aus dem sie die Dankesschreiben der Patienten und Sartorius’
Finanzunterlagen mitgenommen hatten. Der umfangreichen Bibliothek hatten
sie damals keine große Beachtung geschenkt. Aber wo beginnen?
Langsam ging er an den
Regalreihen entlang. Ältere französische Literatur, Montaigne,
Pascal, verschiedene Briefwechsel. Erotische Literatur. Clelands ›Fanny
Hill‹, de Sade, Sacher-Masochs ›Venus im Pelz‹ , daneben anonyme Werke, was ihn an
die Bilder im Schlafzimmer erinnerte.
Doch der Tote schien sich
auch für Anthropologie interessiert zu haben, außerdem
entdeckte Leo Werke über Edelsteine, Wünschelrutengänger,
Hypnose und Mesmerismus, Akupunktur, Homöopathie, eine bunte Mischung
aus Okkultismus und Wissenschaft. Doch wo sollte er anfangen? Er konnte
unmöglich die ganze Bibliothek durchblättern. Und wenn der Schlüssel
zum Kode nun ganz woanders verborgen lag?
»Bitte, Frau von
Dreesen, beruhigen Sie sich doch«, sagte Robert und hielt ihr ein
Taschentuch hin, zum Glück hatte er am Morgen ein sauberes
eingesteckt. »Wir tun nur unsere Pflicht.«
Die junge Frau, sie war nicht
älter als Anfang dreißig, schüttelte den Kopf und machte
eine abwehrende Handbewegung. Dann sagte sie mit erstickter Stimme:
»Das weiß ich. Ich hatte gehofft, ich könnte gefasst
bleiben, aber es ist noch so frisch. Ein Jahr ist nicht viel, wenn man
einen geliebten Menschen verloren hat.«
Robert und Berns, der sich
noch viel unbehaglicher fühlte, sahen einander an. Wie viel mochte
die arme Frau wissen?
»Keine Sorge, wir
wollen den Tod Ihres Mannes nicht noch einmal öffentlich aufrollen.
Es geht uns allerdings um die genauen Umstände, die ihn zu dieser Tat
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