Leo Berlin
nachmittags?«
Sie wurde rot, aber nicht vor
Scham, sondern vor Wut. »Was soll das heißen? Stehe ich etwa
unter Verdacht?«
»Nein, nein«,
beschwichtigte Robert sie rasch. »Wir müssen nur alle
Eventualitäten ausschließen, Frau von Dreesen. Alle
Erpressungsopfer und deren Angehörige zählen zu den möglichen
Tätern, ein anderes Motiv ist uns bisher nicht bekannt.«
Frau von Dreesen schluckte.
»Ich müsste in meinen Kalender schauen, um Ihnen zu sagen, wo
ich an diesem Tag gewesen bin«, sagte sie bemüht. »Einen
Moment, bitte.« Sie holte eine Handtasche und zog einen eleganten
Taschenkalender hervor. »Am 5. Juni war ich mit meinen Kindern und
der Nanny im Zoo. Den ganzen Nachmittag.«
Dem war nichts hinzuzufügen.
Die Kriminalbeamten bedankten sich und standen auf. Frau von Dreesen führte
sie persönlich zur Haustür, wo sie einen Augenblick zögerte.
»Für Ihre
Diskretion wäre ich wirklich dankbar. Vielleicht können Sie
nicht verstehen, weshalb mir noch so viel an meinem Mann liegt, dass ich
sein Andenken bewahren möchte, aber es geht auch um meine Kinder. Und
den Ruf der Firma. Sie sollen nicht auch noch alles andere verlieren.«
»Wir werden uns bemühen«,
versicherte Robert.
Er wartete eine Weile ab.
Genoss die Vorfreude. Rauchte in aller Ruhe eine Zigarre. Kam sich
ungeheuer mächtig vor. Dann stieg er aus. Er klopfte auf die Tasche
des Mantels. Flach und glatt. Er schob die Hand hinein. Kühl und
geschmeidig. Genau richtig.
Er bog in die
Nussbaumallee, getrieben von der Gewissheit, dass dies der einzige Weg
war. »Herbert, Herbert!«, hatten sie gerufen. Ihn angefeuert,
als er Max die Hose öffnete, ihn zum Bett stieß. Dieser Mann
stand für alle, die ihm das angetan, die ihn zu etwas Unerträglichem
gezwungen hatten, die gelacht hatten über seine Scham, die ihn in die
Arme einer Frau gedrängt hatten, die das Unheil in seinen Körper
säte. Er spürte die tiefe Gewissheit, dass er sich an diesem Tag
ein für alle Mal davon lösen, dass er noch heute zu Viola fahren
und ihr als freier Mann gegenübertreten konnte.
Max Edel stieß das
Gartentor auf und schritt auf die offene Haustür zu. Der Boden im
Flur war feucht, doch es war niemand zu sehen.
Leo war einer Eingebung
gefolgt und hatte sich die Trittleiter aus der Ecke hinter der Zimmertür
geholt. Er stellte sie vor das Regal, stieg hinauf und fuhr mit der Hand
über die Oberseiten der Bücher. Staub. Aber darum ging es ihm
nicht. Reihe um Reihe arbeitete er sich vor. Dann kletterte er hinunter
und stellte die Leiter beiseite, nahm sich die unteren Buchreihen vor. Und
endlich fühlte er etwas. Es war hinter die Reihe geschoben worden und
überragte ein wenig die Bücher, die davor standen.
Er nahm die Bände heraus
und zog ein schmales Heft hervor. Nichts Geheimnisvolles, nur ein
liniertes Schreibheft, wie Kinder es in der Schule benutzten. Leo wollte
es gerade aufschlagen, als es an der Wohnungstür klopfte.
Er stieß einen leisen
Fluch aus, schob das Heft in die Innentasche seines Jacketts und ging zur
Tür. Niemand da. Vielleicht die Putzfrau. Er zuckte mit den
Schultern, wandte sich um und wollte wieder hineingehen, als ihn jemand
abrupt in die Wohnung stieß, die Tür hinter sich zutrat und ihn
in den Schwitzkasten nahm. Der Angreifer sprach kein Wort, nur sein Atem
war zu hören. Die Überraschung war so groß, dass Leos
Instinkt aussetzte. Rauer Stoff, vielleicht Tweed, kratzte über seine
Wange.
Die Luft wurde knapp, bunte
Funken sprühten vor seinen Augen. Leo spürte einen brennenden
Schmerz in der linken Körperhälfte, dann schlug seine Schläfe
gegen etwas Hartes, und er stürzte kopfüber ins Leere.
19
Sie saßen in einem
kleinen Café und unterhielten sich. Ilse hatte sich beim
Hereinkommen ein wenig unsicher umgeschaut, da sie es nicht gewöhnt
war, in Herrenbegleitung auszugehen, aber das Lokal wirkte seriös und
nicht zu teuer. Eine gute Wahl.
»Was möchten Sie
trinken?«, fragte Herr Schneider freundlich.
»Einen Kaffee, bitte.
Man bekommt heutzutage so selten guten Kaffee.«
»Das stimmt. Aber die
Zeiten werden wieder besser, glauben Sie mir.« Dann beugte er sich
ein wenig vor. »Ich freue mich sehr, dass Sie Zeit für mich
hatten. Was sagten Sie doch gleich, wo Sie arbeiten?«
Ilse sah etwas verlegen vor
sich auf den Tisch. »Ich . . . ich führe meinem
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