Leo Berlin
Lindenallee, fuhr geradeaus, immer
weiter, dann nach links in die Nussbaumallee. Der Wagen hielt vor dem
Haus, in dem Sartorius gewohnt hatte.
Wieder wischte er sich die
Hände an der Hose ab. Er fühlte sich nackt ohne die Handschuhe,
aber sie gehörten der Vergangenheit an, mit den Handschuhen hatte er
etwas zerstört, das endgültig verloren war, den alten Max, den
braven, belächelten Junggesellen, den Mann, der von einem Peter
Cornelissen auf die Straße gesetzt wurde. Den Mann, der zwar als künstlerischer
Kopf der Firma galt, aber keine Ahnung von Zahlen hatte, der nicht den
Geschäftssinn und das Durchsetzungsvermögen seines Vaters besaß.
Und damit auch nicht dessen Ansehen. Den Mann, dem vor gar nicht langer
Zeit ein Scharlatan gesagt hatte, er sei unrettbar verloren.
Er fuhr langsam weiter und
parkte in einer Nebenstraße. Niemand konnte ihn jetzt noch
aufhalten. Er spürte, wie ihn die Macht durchflutete, die Macht, die
er gespürt hatte, als er den Buddha schwang, als er den Seidenschal
–
18
»Gehen wir heute
Nachmittag nicht zu Marie, Tante Ilse?« Georg steckte den Kopf zur Küchentür
herein.
Seine Tante, die gerade das
Geschirr vom Mittagessen spülte, schüttelte den Kopf. »Ich
habe zu tun. Du bist doch ein großer Junge, möchtest du heute
allein hingehen?«
»Ja, sicher. Vielleicht
kann ich ihr mit den Fingerpuppen durchs Fenster eine Geschichte
vorspielen.«
»Gute Idee. Um sechs
bin ich wieder da. Hier, nimm meinen Schlüssel, du kommst ja sicher
vor mir zurück.«
Gut, dass Georg keine Fragen
gestellt hatte. Sie wollte sich mit ihrem Bekannten Herrn Schneider
treffen, den sie seit der missglückten Verabredung vor einigen Wochen
nicht mehr gesehen hatte. Ein Spaziergang, vielleicht eine Tasse Kaffee
irgendwo im Grünen, sie freute sich schon seit Tagen darauf. Leo
konnte nichts dagegen haben, wenn Georg ein paar Stunden allein blieb, er
war doch schon acht. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als
Herr Schneider angerufen und um ein erneutes Treffen gebeten hatte. Nach
der Enttäuschung von damals hatte sie schon damit gerechnet, nie
wieder von ihm zu hören. Dumm dagestanden hatte sie, als Leo sie an
jenem Sonntag einfach mit den Kindern sitzen gelassen hatte. Ein bisschen
Umherlaufen in der Emdener Straße war nicht gerade romantisch, vom
Gerede der Nachbarn ganz zu schweigen. Nicht dass sie sehr auf Romantik
aus gewesen wäre, so etwas passte nicht zu ihr, aber ganz so nüchtern
sollte es dann doch nicht zugehen.
»Ich geh noch ein
bisschen Fußball spielen, bevor ich Marie besuche«, rief Georg
von der Wohnungstür.
»Bis nachher.«
Sie sah auf die Uhr. Noch ein
wenig Zeit, um sich zurechtzumachen. Sie ging in ihr Schlafzimmer und
setzte sich vor die Frisierkommode, die noch von ihrer Mutter stammte. Sie
hatte darauf bestanden, einige eigene Möbelstücke mitzubringen,
als sie zu Leo gezogen war. Ilse bürstete sich die Haare und steckte
sie im Nacken hoch. Eigentlich war die Frisur nicht mehr modern, die
jungen Frauen trugen ihr Haar heutzutage viel kürzer, aber sie konnte
sich mit der Vorstellung nicht anfreunden. Außerdem wirkte Herr
Schneider sehr seriös, vielleicht missbilligte er sogar diese
gewagten Kurzhaarfrisuren.
Ilse zog die Schürze aus
und betrachtete ihr gelbes Kleid. Die Taille war hoch angesetzt, was allmählich
ebenfalls aus der Mode kam, aber es war aus gutem Stoff gefertigt und
hatte hübsche Knöpfe. Sie strich den Rock glatt und drehte sich
einmal um sich selbst. Gar nicht schlecht. Sie steckte eine
Bernsteinbrosche an, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und suchte
einen Strohhut mit einer gelben Blume an der Krempe aus. Gut. Sie war
bereit.
Sie trat ans Fenster. Noch
war er nicht zu sehen. Ob sie nach unten gehen sollte?, fragte sie sich
unsicher. Nein, besser nicht, das könnte aussehen, als ob sie es nötig
hätte, auf ihn zu warten. Hast du das denn nicht?, meldete sich eine
verstohlene Stimme in ihr, die sie sofort zum Schweigen brachte.
Sie hatte ihn bei der
Geburtstagsfeier einer alten Schulfreundin kennen gelernt, wo er sehr
gewandt, aber nicht großspurig aufgetreten war. Sie hatte sich
gewundert, dass er sich überhaupt mit ihr unterhielt, da sie sich
manchmal ein wenig als spätes Mädchen fühlte, doch an jenem
Nachmittag war alles anders gewesen. Niemand konnte ihr etwas über
ihn erzählen,
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