Leopardenblut (German Edition)
Schattenverstand. Sie würde sie genauer betrachten, wenn sie wieder hinter den Mauern ihrer eigenen Schutzschilde war.
Plötzlich schreckte sie eine Bewegung auf.
Henry verließ das Gewölbe. Während er so intensiv mit seiner Aufgabe beschäftigt gewesen war, hatte sie sich ganz an den äußersten Rand seines Bewusstseins begeben. Nun zog es sich rasch zusammen und wenn sie nicht aufpasste, würde sie herausfallen und in der Falle sitzen. Da ihr Bewusstsein schon so lange von ihrem Körper getrennt war, würde dieser daraufhin sofort in ein Koma fallen, aus dem sie nie wieder aufwachen würde.
Kalte Angst erfasste die Frau auf dem Bett, doch im Medialnet war ihr Verstand so unbewegt wie die spiegelglatte Oberfläche eines Teichs. Sie schaffte es gerade noch zurückzukehren, bevor Henry die Tür hinter sich schloss. Er machte sich auf den direkten Weg in die dunkelste Region des Medialnets, zu der jeglicher Zugang strengstens verboten war. Nie hätte sie vermutet, dass im Innern dieses Bereichs ein noch dunklerer Kern lag.
Das mussten die Ratskammern sein.
Jetzt wurde es knifflig. Wenn die anderen Mitglieder ebenfalls dort waren, sahen sie vielleicht, was Henry nicht bemerkt hatte. Am allergefährlichsten war Nikita. So wie Sascha sofort das Zeichen ihrer Familie in dem Gewölbe entdeckt hatte, würde Nikita auf der Stelle ihr Zeichen sehen, wenn nur der kleinste Hinweis darauf in Henrys Schatten sichtbar wurde.
Aber Nikita hatte vorhin nichts von einem Treffen erwähnt. Sonst hätte Sascha nie mit der Beschattung angefangen. Wieder und wieder sagte sie sich, dass sie keinen Grund zur Panik hatte. Nach dem letzten Kontrollpunkt öffnete sich die innerste Kammer vor ihnen. Sechs andere Sterne funkelten hell in ihrem Inneren.
Der Rat hatte eine Sitzung.
Verzweifelt versuchte Sascha noch weiter unterzutauchen als bisher und verschmolz auf molekularer Ebene mit der äußeren Schicht von Henrys Bewusstsein. Auf Dauer konnte das ihren Geist zerstören, aber sie hatte keine andere Wahl.
„Warum sind wir hier?“ Diese forsche Frage konnte nur von Tatiana kommen.
Da sie sich außerhalb von Henrys Abwehr aufhielt, konnte Sascha zwar nicht seine Gedanken lesen, aber sie konnte hören, was er hörte. Denn bevor sie Henry erreichten, mussten die Gedanken der anderen erst durch seine Schutzschilde und kamen damit notgedrungen auch an ihr vorbei. Das war das Geniale am Beschatten.
„Ja, wieso?“ Das war Nikita. „Ich musste mich unbemerkt aus etwas sehr Wichtigen davonstehlen.“
„Er hat sich wieder ein Gestaltwandlermädchen genommen.“ Marshalls Gedanken waren messerscharf.
Völlig verborgen, sodass sie kaum noch vorhanden war, nahm Sascha das Gespräch einfach auf, ohne darüber nachzudenken. Jede Reaktion konnte ihr gefährlich werden.
„Wann?“, fragte Tatiana.
„Vor zweieinhalb Tagen. Weil wir unseren Untergebenen so viel Druck gemacht haben, damit sie die anderen Fälle verschleiern, dachten sie, wir hätten kein Interesse daran, auf dem Laufenden zu bleiben.“ Marshall hatte die ganze Zeit denselben Tonfall beibehalten. „Ich bin in einem Gespräch mit einem meiner Wachposten auf die Information gestoßen.“
„Das kann so nicht weitergehen!“, stellte Nikita fest. „Auch wenn ihr es nicht glaubt, die Gestaltwandler sind nicht machtlos. Die DarkRiver-Leoparden haben den Verlust ihrer Frau bestimmt nicht vergessen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie schon auf der Jagd wären. Wir sollten darauf hoffen, dass sie nicht ungeduldig werden und stattdessen mit irgendeinem von uns vorliebnehmen.“
Sascha erlaubte sich den Gedanken, wie erstaunlich es war, dass sie nie bemerkt hatte, wie deutlich Nikita Dinge wahrnahm, die die meisten Medialen ignorierten.
„Welches Rudel ist es diesmal?“ Das war Enrique.
„Die SnowDancer-Wölfe“, antwortete Marshall.
„Kaum zu glauben, dass nicht schon Hunderte von uns tot sind“, bemerkte Nikita. „Diese Wölfe sind gemeingefährlich.“
„Sie sind doch nur Gestaltwandler.“ Mings Gedanken klirrten vor eiskalter Bedrohlichkeit. „Was können sie schon tun?“
„Stell dich nicht dumm!“, erwiderte Nikita. „Sie wissen, dass wir nahe genug an sie herankommen müssen, um eine Wirkung zu erzielen – und dann sind wir in der Reichweite ihrer Waffen. Die SnowDancer-Wölfe haben im letzten Jahr fünf Mediale aus dem Verkehr gezogen. Im Medialnet wusste man nicht einmal, dass sie sich in Gefahr befanden. Ihre Lichter sind einfach erloschen. Man
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