Lesereise Finnland
Mann mit Rauschebart und rotem Mantel um. Auch nicht, wenn er im Schlepp von sechs ausgewachsenen Rentieren vorfährt, neben der Gangway einer Boeing stoppt und jeden einzelnen Passagier mit Handschlag und zünftigem »Ho, ho, ho!« begrüßt. Der Mann macht bloß seinen Job. Er ist hauptberuflich der echte Weihnachtsmann. Und Rovaniemis winterfester Airport exakt auf dem Polarkreis ist der offizielle Flughafen des Weihnachtsmanns – der einzige der Welt, wo Vorfeldauftritte dieser Art zum Alltag gehören.
Santa Claus hat sich zur größten Attraktion der Polarkreisregion Finnlands entwickelt. Die meisten seiner multinationalen Besucher schweben per Jet ein – viele nur für einen Tag. Selbst Sonderflüge aus Japan hat es bereits gegeben. Als die Concorde noch fliegende Legende war, kam sie jeden ersten Weihnachtsfeiertag für ein paar Stunden aus England herübergejagt und ging mit steiler Nase, eleganten Deltaflügeln und infernalischem Lärm auf dem Airport zum kostspieligen Kurzbesuch bei Santa Claus nieder.
Der abgelegene Flughafen Rovaniemis, der Hauptstadt Lapplands, hoch oben auf der Nordhalbkugel hat Jets aus aller Herren Länder gesehen. Die Piste ist lang genug für nahezu alle gängigen Flugzeugtypen – und sie ist von unten beheizt. Knapp vierzigtausend Einwohner zählt Rovaniemi, vierhundertsiebzigtausend Bände besitzt die städtische Leihbücherei, die Selbstmordrate der Region ist die höchste Finnlands, und ausgerechnet dieser Flughafen am Polarkreis ist der mit der zweithöchsten Passagierzahl des Landes. An letzterem ist der Weihnachtsmann alles andere als unschuldig.
In den Monaten Dezember und Januar nehmen etwa hundert Charterjets zusätzlich zu den Linienmaschinen Kurs auf die Runway in Lappland. An Bord: Weihnachtsmannbesucher. Tagesflüge zum Weihnachtsmann haben selbst bei einigen deutschen Anbietern Tradition. Und stellt sich der Veranstalter gut mit »Mr. Christmas«, kommt der betagte Herr persönlich an der Flugzeugtür vorgefahren – oder mindestens sein Doppelgänger, während der Echte rund fünf Kilometer vom Airport entfernt auf seinem mit rotem Samt bezogenen Sessel thront und in erwartungsvolle Kinderaugen lächelt.
Rund ums Jahr residiert er in seinem Santa Claus Office in Joulupukin Pajakylä, dem »Dorf des Weihnachtsmanns« bei Rovaniemi, und begrüßt dort Kinder jeden Alters. Kurz vor Heiligabend herrscht Hochbetrieb in seiner Heimat am Polarkreis. Sechs Stunden lang sitzt er da jeden Tag auf seinem Thron, schüttelt Hände im Dutzend, nimmt Kinder auf den Schoß, hat für jedes ein paar freundliche Worte parat, verschenkt Pfefferkuchen, hört sich Gedichte und Ständchen an, lobt jeden noch so verhängnisvoll gereimten Vers, klatscht freundlich Beifall und scherzt beizeiten sogar mit seinen Besuchern aus aller Welt. Dem Mann mit Pelzmütze und weißem Rauschebart, mit rotem Mantel und schweren gefütterten Stiefeln scheint der Hochbetrieb Spaß zu machen. Hinter seiner silbernen Nickelbrille blitzen muntere blaue Augen. Damit es dem alten Herrn, der etwa einen Meter fünfundneunzig groß und gute hundertfünfzig Kilo schwer sein dürfte, nicht allzu warm wird, rattert neben seinem Thron am Kamin ein verzweifelter Plastikventilator im Dauereinsatz. Kerzenflammen wehren sich flackernd auf dem Kaminsims gegen den frischen Luftzug. Aus einem Kassettenrekorder schallt leise Weihnachtsmusik: Jingle Bells, O Tannenbaum, dazu Schellen- und Glöckchenklänge in Endlosschleife. Ein multinationales Programm. So abwechslungsreich wie zwei Modern-Talking- CD s. Und trotzdem stimmungsvoll. Die Umgebung ist schuld daran.
Kaum eine Gegend wäre als Heimat des Weihnachtsmanns glaubwürdiger, kaum irgendwo würde er besser hineinpassen. Und kaum irgendwo sonst würde es Kindern und selbst Erwachsenen leichter fallen, an den Weihnachtsmann zu glauben als hier im arktischen Norden Finnlands: tiefverschneite Wälder und Straßen, rosarot-blauer Himmel, Schlitten auf schmalen Pfaden, Rentiere am Wegesrand, knackige Kälte.
An den Weihnachtsmann adressierte Kinderpost aus aller Welt wird bereits seit den fünfziger Jahren an die Adresse Santa Claus, Joulupukin Pääposti in FIN -96930 Napapiiri geschickt, an das letzte Postamt diesseits des Polarsterns – über zweihundertfünfzigtausend Briefe jedes Jahr. Das Luftpostaufkommen auf Rovaniemi-Airport steigt im Dezember immens an. Fleißige Helfer beantworten Bittbriefe und Wunschzettel aus aller Welt, die der Chef anschließend per
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