Lesereise - Israel
geblieben ist. Adina Bar Schalom, die charismatische Tochter eines der wichtigsten Rabbiner Israels, spricht von einer fortschreitenden Radikalisierung ihrer Welt: »Als ich sechzehn Jahre alt war, konnte ich ein rotes Kleid anziehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Heute wäre das undenkbar«, sagt die Rabbinertochter, die inzwischen selber Großmutter ist. Die israelische Presse berichtet gern über diese eskalierende Strenge der Rabbiner. Mal ertönt ein Aufschrei über die haredischen Buslinien mit Geschlechtertrennung, mal löst das Verbot, Aufzüge am Sabbat zu benutzen, verständnisloses Kopfschütteln aus. Doch selbst unter Ultraorthodoxen führen die steten Machtkämpfe zwischen Rabbinern, die um Anhänger, Einfluss und Geld ringen, zu Unbehagen. »Die haredische Welt atomisiert sich«, sagt Miriam Woelke, eine Expertin, die einen Blog über Haredim führt.
Die schönen Seiten der Haredim sind nur wenigen bekannt, wie zum Beispiel ihre praktizierte Nächstenliebe, die hier Gamach genannt wird, Akronym für Gmilut Hassadim . »Es gibt ein haredisches Branchentelefonbuch für Gamach«, sagt Woelke. Darin stehen Hunderte haredische Betriebe, die Armen helfen, ohne Fragen zu stellen. »Ein Haredi kann umsonst von anderen Haredim Babykleidung, neue Brillen oder sogar einen Laptop bekommen.« Große Kreise der Haredim haben diese Hilfe bitter nötig. In ihrem Haushalt leben im Durchschnitt 7,7 Kinder. Oft arbeiten die Väter nicht, sondern widmen sich, gemäß Josua 1:8, rund um die Uhr dem Studium heiliger Schriften: »Lass dieses Buch des Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht.« Haredim stellen heute dreiundzwanzig Prozent der Erstklässler in israelischen Schulen, aber nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer. Viele von ihnen sind wenigstens konsequent genug, Sozialhilfe abzulehnen, weil sie den Staat Israel nicht anerkennen. Ohne Gamach versänken sie in bitterer Armut.
Bar Schalom steht dieser Schnorrerei kritisch gegenüber. Als Tochter des mächtigen Rabbiners Ovadia Josef, eine der einflussreichsten Figuren im Land, kann sie sich offene Kritik leisten. Aber Bar Schalom redet nicht nur. Sie hat damit begonnen, die geschlossene Welt der Haredim zu revolutionieren, selbst wenn sie vor diesem Begriff zurückschreckt: »Man kann in beiden Welten leben, ohne etwas dabei aufzugeben.« Die bescheidene Modedesignerin eröffnete 2001 eine kleine Universität für haredische Mädchen. »Ich hatte damals dreiundzwanzig Studentinnen«, sagt Bar Schalom.
Im Sommer 2009 zog das »Haredische College in Jerusalem« in einen Neubau um. Hinter einer modernen Glasfassade studieren sechshundertfünfundsiebzig Mädchen und dreihundertfünfzig Männer Psychologie, Partnerberatung, Jura, Betriebswirtschaftslehre und Sozialarbeit. Sogar Evolution gehört zum Lehrstoff. »Ich gründete diese Universität, weil die Haredim nur von Spenden leben«, sagt Bar Schalom. Das koschere College soll Abhilfe schaffen: Absolventen verdienen mit neunhundert Euro monatlich fast fünfzig Prozent mehr als der Durchschnitt der Haredim. »Ich würde mich freuen, wenn dieses College eine Annäherung zwischen Haredim und Säkularen herbeiführt«, sagt Bar Schalom. Doch selbst sie glaubt, dass Haredim und Säkulare sich immer weiter voneinander entfernen.
Das College muss besondere Auflagen erfüllen, damit haredische Mädchen herkommen dürfen. Männer und Frauen bleiben strikt getrennt, für die jungen Mütter gibt es einen eigenen Hort, in dem fünfunddreißig Kinder von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends betreut werden. »Unsere Spitzenreiterin ist eine vierzigjährige Studentin mit zehn Kindern«, sagt Bar Schalom. Rabbiner mussten das Institut für »koscher« erklären. Noch heute befürchten viele, die weltlichen Studien würden die Frauen verderben.
Für Männer, die sich eigentlich nur mit der Bibel beschäftigen sollten, bedeutet das Studium an einer Universität gar einen sozialen Abstieg. »Heutzutage müssen sie aber helfen, ihre Familien zu ernähren«, sagt Bar Schalom und erklärt jedem, der Arbeit als profan ablehnt: »Gott ist mit den Tüchtigen.«
Von Handys und Hochmut
Israel ist immer für eine Überraschung gut. Auf Stereotype ist hier kein Verlass
»Mit wem spricht der denn da?«, fragte ich mich, als ich in Jerusalem an einem wild gestikulierenden ultraorthodoxen Juden vorbeiging. Der war in ein heftiges Selbstgespräch verwickelt. In der Heiligen Stadt gilt eine Unterredung mit
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