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Lesereise - Israel

Lesereise - Israel

Titel: Lesereise - Israel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gil Yaron
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andere Welt. Wind wirbelt Müll durch die Straße. Hier hat kein Haus seine eigene Mülltonne. Stattdessen stehen am Straßenrand, wo Parkplätze bitterlich fehlen, grüne Müllcontainer, in die die Bewohner ihren Abfall von Weitem werfen. Oftmals verfehlen sie dabei die stinkende, offen stehende Klappe des Containers, sehr zur Freude unzähliger Straßenkatzen, die die Tüten zerreißen und sich an dem herumfliegenden Unrat laben. Oben leuchtet die Neonschrift eines modernen Supermarkts, der rund um die Uhr geöffnet hat, unten wirbt ein verblichenes Plakat auf Arabisch für den lokalen Tante-Emma-Laden. Oben parken nagelneue Geländewagen, manche mit Diplomatenkennzeichen, vor Villen mit grünen Vorgärten, unten rauschen aufgemotzte BMW s mit heruntergekurbelten Fenstern, durch die laute arabische Musik tönt, dicht an spielenden Kindern vorbei. Nur selten traut sich ein Jude nach unten oder ein Araber nach oben.
    Das jüdische und das arabische Abu Tor könnten fast auf unterschiedlichen Planeten liegen. Die Kinder gehen in verschiedene Schulen, lernen nach einem jeweils eigenen Lehrplan und sprechen verschiedene Sprachen. Ihre Eltern lesen verschiedene Zeitungen. Die einen sehen israelische, die anderen arabische Fernsehkanäle, in denen sich die Realität des Nahen Ostens völlig unterschiedlich darstellt. Während die Juden Polizisten als Vertreter der Staatsgewalt betrachten, die ihre Rechte und Sicherheit beschützen, sind dieselben Beamten aus arabischer Sicht Teil eines Mechanismus, der sie schikaniert und unterdrückt.
    Trotzdem gibt es Berührungspunkte zwischen den parallelen Universen Abu Tors. Mitten zwischen den jüdischen Villen liegt ein Spielplatz, auf dem sich ungezwungen Kinder von »unten« und von »oben« tummeln. Beim Fußballspielen überwinden Kinder und Jugendliche hier ihre Ängste vor dem anderen. Nassim, ein einundzwanzigjähriger Kochlehrling, behauptet, hier Freundschaft mit einem israelischen Soldaten geschlossen zu haben. Nebenan sitzen jüdische neben arabischen Müttern am Spielplatz und tauschen Rezepte aus.
    Jerusalem sei die einzige Stadt, in der man sich frei aussuchen könne, in welchem Jahrhundert man leben will, sagte einst der erste britische Militärgouverneur Ronald Storrs Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis heute ziehen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der siebenhundertfünfzigtausend Bewohner Jerusalems es vor, sich gegenseitig zu ignorieren und in ihrer eigenen kleinen Welt zu leben, wenn sie nicht gerade darauf aus sind, sich gegenseitig zu provozieren. Ultraorthodoxe Juden lassen in ihren Stadtvierteln die ausgelöschte Welt des jüdischen Osteuropa des 19. Jahrhunderts wiederauferstehen, in arabischen Vierteln fühlt man sich Amman näher als Tel Aviv, während man in säkularen Wohnbezirken vergessen will, dass man sich in Nahost befindet. Zu Kontakt kommt es hauptsächlich in den Konfliktzonen, wenn jüdische Siedler wieder ein arabisches Haus übernehmen, wenn religiöse Juden ein unkoscheres Restaurant schließen oder eine Straße sperren lassen wollen, wenn Armenier sich mit griechisch-orthodoxen Mönchen oder Franziskanern um Vorrechte in der Grabeskirche prügeln. Militante Siedler bespucken Priester in der Altstadt, Muslime bewerfen jüdische Betende mit Steinen. Manchmal kommt es zu überraschender, wenn auch traurig stimmender Eintracht, etwa wenn Patriarchen, Rabbiner und Muftis gemeinsam gegen ein Straßenfest der homosexuellen Gemeinde agieren.
    Doch der Alltag ist komplexer als das Klischee der parallelen Universen einer Stadt, die drei einander feindlichen monotheistischen Religionen heilig ist. Im Groben treffen die stereotypen Einteilungen zwar zu: Araber leben im Ostteil der Stadt, der schon rückschrittlich war, als Israel das Gebiet eroberte, und sich seither nicht weiterentwickelt hat. Hier gibt es keine öffentlichen Badeanstalten, nur wenige Bibliotheken, vielerorts fehlen noch immer Bürgersteige und Kanalisation, von Müllabfuhr und Straßenbeleuchtung ganz zu schweigen. Israelische Krankenwagen kommen nur mit Geleitschutz her, wenn überhaupt. Die engen Gassen sind oft ein rechtsfreier Raum, in dem Armut und Frust entstehen. Für Araber ist es hier fast unmöglich, eine Baugenehmigung zu erhalten. Der Staat hat rund ein Drittel der 1967 annektierten Gebiete enteignet und seither auf dem Gebiet rund zweihunderttausend jüdische Israelis angesiedelt. Im selben Zeitraum ist kein einziger neuer arabischer Stadtteil entstanden. Die Absicht

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