Lesereise Rom
stets Tausende überwiegend junger Menschen an. Im Hotel Ergife zum Beispiel ging es vor einiger Zeit um neunzig Fahrerstellen bei der Finanzpolizei. Siebzehntausend Interessenten gaben Antwort auf die Ausschreibung, zur Prüfung reisten etwa siebentausend an, viele im eigenen Auto. Für drei Stunden lag das Viertel lahm.
Und doch war dies noch harmlos im Vergleich zu jener Flut von Bewerbungen, in die 1996 das italienische Finanzministerium strudelte. Für zweitausend neue Posten in der Finanzverwaltung, verteilt auf ganz Italien, meldeten sich nicht weniger als 1,4 Millionen Frauen und Männer – ein Rekord. Achthunderttausend von ihnen erstrebten einen der eintausendfünfundachtzig ausgeschriebenen Jobs als Archiv-Helfer oder Schreibkraft, die übrigen sechshunderttausend bemühten sich um neunhundertfünfzehn Stellen für Steuergehilfen. Allein die Ausschreibung und die Vorauswahl der Prüfungsteilnehmer kosteten den Staat umgerechnet rund zweieinhalb Millionen Euro. Für die Examina wurde die Weihnachtspause abgewartet, damit man im Land genügend leere Schulsäle fand.
Concorso (Wettbewerb) ist das Wort, mit dem die Italiener den Hürdenlauf zum öffentlichen Dienst bezeichnen. Die Einrichtung hat mehr als hundertjährige Tradition und ist in der Verfassung verankert. Ziel der Regelung war es einst, die Staatsverwaltung allen Bürgern zu öffnen, sofern sie jeweils die fachlichen Voraussetzungen erfüllten, und so die Unparteilichkeit der Administration und ihre Unabhängigkeit von den Politikern zu sichern.
Es blieb ein schöner Traum. In den vergangenen Jahrzehnten der parteipolitischen Durchseuchung aller Lebensbereiche wurde auch die Verwaltung zum Opfer der Mauschler. Politiker schleusten ihre Helfer ein und versprachen ihren Anhängern Staatsposten gegen Wählerstimmen. Bedienstete, die auf diese Art zu ihrem Amt kamen, glänzten oft durch Unfähigkeit oder Abwesenheit, grausige Lethargie und Inkompetenz der Bürokratie sind das weithin beklagte Resultat dieser Misswirtschaft (aber: manchmal kommt man auf ein Amt, und alles geht ganz schnell und gut).
Noch immer ist die raccomandazione, die persönliche Empfehlung eines Politikers oder einer sonstwie einflussreichen Persönlichkeit, für die meisten Menschen ein unerlässlicher Helfer bei Anliegen aller Art, besonders bei Karrierewünschen. Namhafte Experten wie der Professor Sabino Cassese, der 1993/94 als Minister für die öffentliche Verwaltung hinreichend praktische Erfahrung sammeln konnte, behaupten, trotz aller hehren Zielsetzungen seien von 1978 bis 1993 rund sechzig Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf Schleichwegen zu ihren Posten gekommen, ohne concorso also – ein offen verfassungswidriger Zustand. Er wird noch dadurch verschlimmert, dass concorsi auf lokaler und regionaler Ebene zu etwa sechzig Prozent nicht korrekt abgewickelt wurden, wie Cassese ermittelte. In der Gesundheitsverwaltung waren es gar hundert Prozent.
Der anfällige Schwachpunkt sind die Prüfungskommissionen. Gerecht im Geiste der Verfassung könnten sie nur entscheiden, wenn sie mit unabhängigen Fachleuten besetzt wären. Meist aber war, zumindest auf unterer Ebene, bisher der Chef der Kommission ein Lokalpolitiker oder sein Abgesandter, ein zweites Mitglied wurde von den Gewerkschaften bestimmt, nur der dritte konnte als Experte gelten. Nicht immer, aber oft waren absurde Beschlüsse das Ergebnis: fähige Bewerber fielen durch, unfähige gingen aus dem concorso als Sieger hervor, weil sie die besseren Beziehungen hatten.
An Universitäten kam es zu Skandalen. Professoren sprachen sich als Prüfer untereinander ab und verhalfen nach Feudalmanier den empfohlenen Vasallen oder Verwandten von befreundeten Kollegen, in einem Fall auch der Geliebten, zum begehrten Hochschulamt. Eine Kandidatin wurde auf diese Weise Professorin für Albanisch, obwohl sie diese Sprache nicht im mindesten beherrschte. Gleichwohl gibt es selbstverständlich in Italien auch fähige Professoren – und fähige Forscher, die niemals Professoren wurden.
Auch auf diesem weiten Feld kreuzen sich zwei Linien der Kulturtradition: das archaische Italien mit seiner Begünstigung durch den padrone kontrastiert mit dem modernen Italien und seiner Forderung nach Leistungskriterien und Gleichbehandlung für alle. Versuche von Politikern, diesen Gegensatz zugunsten der Modernität aufzulösen und deshalb die zur Farce gewordene Einrichtung des concorso abzuschaffen, blieben immer wieder
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