Lesereise Rom
Mitbegründer und Fraktionschef des Christdemokratischen Zentrums, ein landesweit bekannter Politiker, Staatssekretär und Minister war er auch schon mal. Mama ist sechsundachtzig.
Solch unverbrüchliche Anhänglichkeit des Sohnes ist nichts, weshalb man sich in Italien genierte. Francesco D’Onofrio hat unbeschwert der Zeitschrift L’ Espresso Auskunft gegeben, hat mit Mutter Filomena für ein Foto posiert und erklärt: »Ich bin gerne mammista , ich genieße alle Vorteile, und die Verpflichtungen belasten mich nicht.«
Der Mann liegt im Trend. Immer mehr Söhne und Töchter in Italien bleiben immer länger bei den Eltern wohnen, viel länger als in Europas nördlicheren Teilen oder den USA . Nach einer von L’ Espresso 1996 publizierten Umfrage leben 81,6 Prozent der jungen Männer von fünfzehn bis vierundzwanzig Jahren bei Mama und Papa, in der Altersgruppe von fünfundzwanzig bis vierunddreißig Jahren sind es noch vierzig Prozent. Die Zahlen für Frauen liegen mit 75,7 und 25,9 Prozent merklich niedriger. Den Kardinal von Bologna, Giacomo Biffi, hat das zu einer Strafpredigt gegen den unreifen Nachwuchs veranlasst, der noch mit dreißig auf Mamas Sofa lümmelt, anstatt selbst eine Familie zu gründen.
Jugendarbeitslosigkeit und Mangel an preiswerten Mietwohnungen sind nur bedingt als Ursachen heranzuziehen. Auch viele Mittelstandskinder mit guten Jobs sind Nesthocker, sodass wohl eher die sprichwörtlich enge Bindung der italienischen mamma zu ihrem Sohn mitzubedenken ist. Mammismo wird das Phänomen genannt, und es gibt Beobachter, die im starken Bedürfnis von Mutter und Sohn nach gegenseitiger Zuwendung den Schlüssel für die starke Stellung der mamma in der Familie erblicken. Familienclans wiederum sind das Fundament der italienischen Gesellschaft, die ganz auf persönliche Beziehungen zu Verwandten und Freunden gründet und zu Abstraktem wie dem Staat kein rechtes Verhältnis findet. So ist die mamma in Italien vermutlich eine wichtigere Institution als der Ministerpräsident und der Papst. Der Ausruf »Mamma mia!« wird im Lexikon nicht von ungefähr wiedergeben mit »Mein Gott!«
Es ist nicht ungewöhnlich, wenn ein arrivierter Fünfzigjähriger ein berufliches Treffen verschiebt mit der Begründung, er müsse mamma ans Meer bringen. Es lacht kein Italiener, wenn ein Star wie der Skiläufer Alberto Tomba erklärt: »Ich träume davon, eine Frau wie meine Mutter zu finden.« Silvio Berlusconi, der gewöhnlich alles übertreibt, hat sich in Wahlkampagnen gar ausdrücklich nicht nur an Italiens mammas , sondern auch an Omas und Tanten gewandt und in seinen Medien seine Mutter Rosa hochjubeln lassen. Er habe ihr vor Jahren zum siebzigsten Geburtstag siebzig rote Rosen geschickt, erzählte sie.
Indes hat der mammismo Kehrseiten, die auch D’Onofrio nicht leugnet. Gewiss, er hat bis heute in Rom eine zweite Wohnung, aber eine Ehe, die er 1973 einging, dauerte nur Monate. Mamma kam öfters vorbei, brachte Zeitungen oder Käse, das hatte die junge Gattin stark irritiert. Der Zeitschrift venerdi klagte eine »Ehefrau in Tränen«, ihr frisch Angetrauter lasse sich von den Eltern allzusehr dreinreden. »Ich will nicht, dass es mir geht wie meinen Schwägerinnen, dass mein Mann jeden Tag zu seiner Mutter geht und sie anruft und dass wir jeden Sonntag bei ihr essen müssen.« Ein weites Feld tut sich auf, und weil Psychologie eine internationale Wissenschaft ist, halten Psychologen auch in Italien für wichtig, dass Kinder sich rechtzeitig von mamma lösen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Dem wollte die sechsundvierzig Jahre alte Annamaria Romanelli aus Ferrara nachhelfen. Die geschiedene Verkäuferin und Aushilfskellnerin warf ihren Sohn Luca, vierundzwanzig, aus der Wohnung, weil der mehr verdiente als die Mutter, aber nur lumpige fünfzig Euro zum Familienetat beisteuerte. Der Junge ging vor Gericht und prozessierte. Daraufhin musste ihn die mamma fürs Erste weiterhin behalten.
Volkslauf zum Paradies der Amtsstube
Millionen wollen einen Job beim Staat
Es gibt Tage, an denen im Westen von Rom rund um das Hotel Ergife der Verkehr zusammenbricht, und die Anwohner ahnen schon: die Postenjagd geht wieder los. In den Kongresssälen der Herberge finden an langen Tischen nämlich regelmäßig jene schriftlichen Prüfungen statt, die man in Italien abzulegen hat, wenn man sich für den Staatsdienst bewirbt. Da für solche Arbeitsplätze eine geradezu astronomische Nachfrage herrscht, zieht ein Examen
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