Lesley Pearse
und John nicht für mich und meine Kinder gesorgt hättet, als ich eure Hilfe brauchte.«
Heiligabend war ein magisches Ereignis. Matilda und Cissy dekorierten den Raum mit Palmzweigen und Misteln, um die sie rote Bänder mit Schleifen gewunden hatten. An einem Band rund um die Fenster hatten sie Pfefferkuchenfiguren und Zuckerstangen befestigt. Der Geruch nach gebratener Gans hing in der Luft und mischte sich mit dem Duft von Zimt, Orangen, Zitronen und Nelken, die im Topf mit dem Glühwein köchelten.
Die Kinder erhielten zum ersten Mal richtige Geschenke und nicht nur Süßigkeiten, wie sie es bislang gewohnt waren. Doch während Matildas Herz vor Freude auf die Zukunft beinahe überging und Cissys neu erworbener Wohlstand sie glücklich stimmte, war sie in ihrem Innern doch ein wenig traurig, denn sie wusste, heute ging wieder ein Abschnitt ihres Lebens zu Ende.
Die Kinder und Cissy würden in der Stadt ein sehr viel komfortableres Leben führen. Sie würden zur Schule gehen, die Kirche besuchen und sich mit anderen Familien anfreunden. Sidney hatte einen richtigen Job, und das neue, mit Schindeln gedeckte Haus war im Vergleich zu der Hütte ein wahrer Palast. Es gab eine Treppe zu den oberen Schlafzimmern, eine Wasserpumpe direkt vor der Tür in den Garten und einen Keller, in dem im Sommer die Lebensmittel kühl gelagert werden konnten.
Doch die von John erbaute Holzhütte, das Land mit den jungen Obstbäumen und der ordentlichen Reihe sorgfältig gehegter Gemüsesetzlinge war der Traum gewesen, der Cissy, John und Sidney auf ihrem Treck nach Oregon aufrechterhalten hatte. Nur deshalb hatten sie genügend Kraft gehabt, die lange Reise von New Jersey bis Oregon zu bestehen. Matilda und Tabitha hatte dieser Ort Zuflucht geboten. Die Liebe, die ihnen hier entgegengebracht worden war, hatte ihre gebrochenen Herzen geheilt.
»Gefällt dir dein neues Zuhause?«, flüsterte Matilda Tabitha zu und setzte sich auf das Bett, das sie mit Susanna teilte. Die Kleine war bereits eingeschlafen, und Amelia lag in ihrer Wiege.
Am Vortag hatten sie das Neujahrsfest achtzehnhundertfünfzig gefeiert, und am nächsten Tag würde Matilda nach San Francisco aufbrechen. Es war heute die letzte Möglichkeit herauszufinden, ob Tabitha Angst vor der Trennung von Matilda hatte.
Zwei alte Freunde von John hatten ihnen vor drei Tagen beim Umzug geholfen und alle Möbel auf einen großen Wagen geladen. Cissy hatte ein paar Hühner behalten, und Sidney hatte einen Apfelbaum und einen Pfirsichbaum ausgegraben, die er hier als Erinnerung an die Zeit in der Hütte eingepflanzt hatte. Die beiden Frauen hatten Gardinen für die Fenster genäht, und Cissy wollte auch noch ein wenig Geld für ein Sofa und einen Teppich ausgeben.
»Ich liebe das Haus«, antwortete Tabitha. Ihre dunklen Augen blickten direkt in Matildas. »Es ist so gemütlich und wird sehr hübsch sein, wenn alles einmal fertig ist. Cissy hat heute gesagt, dass wir einen richtigen Garten mit Rasen und Blumen haben werden, weil ich ihr von Mama erzählt habe, die im Sommer den Tee so gern im Garten eingenommen hat.«
Matilda freute es, dass Tabitha sich noch gut an ihre Mutter erinnern konnte, besonders an ihre durch und durch britische Art. »Gibt es denn irgendetwas, das dir nicht gefällt?«, hakte Matilda nach und strich dem Mädchen die Haare aus der Stirn.
»Nur, dass du nicht hier sein wirst«, gestand Tabitha mit einem kleinen Seufzer. »Aber vielleicht wird mir das nicht mehr so viel ausmachen, wenn ich erst einmal zur Schule gehe.«
Matilda spürte einen Kloß im Hals. »Verstehst du denn, warum ich gehe?«
Tabitha nickte. »Um ganz viel Geld für uns zu verdienen.«
»Es ist nicht nur das Geld«, erwiderte Matilda sanft, denn sie wusste, dass sie dem Kind die ganze Wahrheit schuldig war. »Ich möchte diese Chance auch gern nutzen, um mich zu beweisen. Für manche Leute ist es nicht ausreichend, genug zu verdienen, um sich und ihre Kinder kleiden und ernähren zu können. Man nennt das Ehrgeiz. Dein Vater hatte den Ehrgeiz, die Armut abzuschaffen und die Sklaven zu befreien. Onkel John wollte, dass aus dieser Stadt ein schöner Ort mit gepflasterten Straßen, einem Krankenhaus und Parks werden würde, in denen die Menschen spazieren gehen können. Du hast den Ehrgeiz, Ärztin zu werden. Ich hoffe, das Vorhaben wirst du niemals aufgeben.«
»Das werde ich nicht. Ich wünsche es mir mehr denn je«, erklärte Tabitha. »Ich finde, dass du sehr mutig bist. Tante
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