Lesley Pearse
Sonnenschein und einer leichten Brise. Der Blick zur Bucht über die Dächer hinweg war wunderschön und friedlich wie immer. Geschäftig fuhren Fischerboote und Schiffe im Hafen ein und aus. Doch sogar während sie die Aussicht noch bewunderte, erinnerte sie sich daran, dass alles, was sie in dieser Stadt lieb gewonnen hatte und gut war, durch harte Kämpfe gegen das Böse errungen worden war.
Und immer noch gab es hier viel zu tun und zu verbessern. San Francisco hatte sich zwar für den größeren Anteil der Einwohner zu einer sauberen und geordneten Stadt mit hübschen Vororten, guten Schulen, Universitäten, Theatern und Bibliotheken entwickelt, aber dennoch gediehen die Barbary Coast und all ihre Obszönitäten weiterhin. Das würde sich auch nicht ändern, denn die meisten Menschen ignorierten die Geschehnisse dort einfach, solange sie nicht ihr eigenes Leben berührten. Schließlich bescherten sie der Stadt zusätzliche Einkünfte.
Matildas Ziel war es immer gewesen, Mädchen aus der Prostitution zu verhelfen und für immer davon fern zu halten. Manchmal kam ihr Tun ihr allerdings wenig erfolgreich vor. »Es ist, als versuchte ich, eine große Badewanne voller Wasser mit einem Fingerhut zu leeren«, pflegte sie dann zu sagen. In den vergangenen fünf Jahren hatten Dolores und sie die Verhaftung von nur fünf Bordellbetreibern veranlassen können, die minderjährige Prostituierte für sich hatten arbeiten lassen. Sie hatten dreiunddreißig Mädchen aus den Freudenhäusern gerettet und über zweihundert Kindern eine vorläufige Unterkunft geboten. Aber damit kratzten sie nur an der Oberfläche eines Sumpfes, in den viele Unglückliche gesunken waren, die sie niemals erreichen konnten.
Von den ersten Mädchen, die in der Folsom Street gelebt hatten, war Fern immer noch bei ihr. Sie betätigte sich jetzt als Haushälterin in einem Heim für arbeitende Mädchen, das Matilda gegründet hatte. Mai Ling hatte einen Restaurantbesitzer geheiratet, und Suzy war Dienstmädchen bei einer wohlhabenden Familie in Rincon Hill. Maria und Angelina arbeiteten als Näherinnen, und Dora und Bessie waren als Mägde untergebracht. Alle Mädchen kamen öfter vorbei, besuchten Matilda und Dolores von Zeit zu Zeit, boten den neuen Hausbewohnerinnen ihre Freundschaft an und machten ihnen Mut.
Nur Ruth hatten sie nicht helfen können. Der ängstliche Blick hatte ihre Augen niemals verlassen, und kurz nachdem sie eine Stelle als Küchenmädchen angenommen hatte, war ihr Körper an den Strand gespült worden. Die Polizei konnte keine Spuren von Gewaltanwendung feststellen, und man vermutete, dass sie sich das Leben genommen hatte.
Von den anderen Mädchen, die Matilda aufgenommen hatte, waren sechzig Prozent noch in der Stellung, die sie für sie gefunden hatte, dreißig hatten geheiratet, manche wechselten von Job zu Job oder hatten sich wieder mit ihren Familien vereinigt. Matilda vermutete, an die fünf Prozent aller Mädchen waren wieder in die Prostitution zurückgefallen, denn sie hatte nie wieder etwas von ihnen gehört.
Auch gab es immer wieder Problemfälle im Haus in der Folsom Street. Momentan beherbergten sie eine frühere Prostituierte, Polly, die sich standhaft weigerte, ihr eigenes Baby zu füttern, weil ihre Brustwarzen dabei angeblich schmerzten. Sie hatte Unfrieden ins Haus gebracht und ließ sich seit der Geburt von Dolores bedienen, als wäre sie ihre Magd. All ihre Mühen und Versuche, dem Mädchen zu erklären, dass es diese eine Chance nutzen musste, schienen nicht zu fruchten. Polly blieb weiterhin feindselig und passte sich nicht den Regeln des Heimes an.
Das Jennings Büro erwirtschaftete inzwischen sogar einen kleinen Gewinn, aber eigentlich hatte Matilda es niemals als Geldgeschäft verstanden. Sie hatte für über zweitausend Mädchen Arbeit gefunden und vielleicht sogar einige Geschäftsleute davon überzeugen können, dass Frauen und Männer die gleichen geistigen Fähigkeiten besaßen und dass Angestellte gut behandelt werden mussten. Doch sie konnte sich jetzt nicht auf ihrem Erfolg ausruhen. Der Krieg stellte eine weitere Herausforderung dar, und wenn sie diese nicht annahm, würde ihr jemand zuvorkommen.
Während sie darüber nachdachte, holte sie sich einen Notizblock und einen Stift. Was benötigte eine Armee? Sie legte eine Liste an: Nahrung, Waffen, Munition, Uniformen, Zelte, Pferde, Krankenhäuser und Pflegeschwestern. Sie runzelte die Stirn, als sie genauer über die letzten beiden
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