Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
unter Deck. Dann sah sie zu Blüstav hoch. Die Wolke war inzwischen nicht mehr ganz so aufgebracht, und er wippte an seinem Seil hin und her und starrte Lettie an.
»Die zwei alten Schachteln werden hinter uns her sein«, rief sie ihm zu. »Sie wollen die Schneewolke für sich haben.«
»Aber sie kriegen sie nicht!«, keifte Blüstav. »Und du auch nicht! Sie gehört mir! Ahhhh!«
Die Wolke grummelte, und ein Funken kroch wie eine blaue Spinne über Blüstavs Mantel.
»Wir haben eine Abmachung, Blüstav. Sagen Sie mir die Wahrheit. Warum sind Sie mit dem Schnee zu mir gekommen? Was hat das mit meiner Mutter zu tun?«
»Alles«, antwortete er ärgerlich. »Es hat alles nur mit ihr zu tun. Sie ist an allem schuld.«
Lettie zitterte und funkelte ihn an. »Los, ich will die ganze Geschichte.«
»Wo soll ich anfangen?«, fragte Blüstav. »Was weißt du überhaupt von deiner Mutter?«
Lettie wagte kaum zu atmen, aus Angst, sie könnte ein Wort verpassen. »Ich weiß, dass sie Teresa hieß und eine Partie Schach gegen meinen Vater verloren hat. Und dass sie lernte, Pianola zu spielen, und unser Gasthaus mit Alchemie erbaut hat. Und dass ich ihre Augen geerbt habe.«
»Und ihre Jacke«, fügte Blüstav hinzu. »Die hat sie an dem Tag getragen, als wir uns das erste Mal trafen. Hör zu, Mädchen, ich bin mit dem Schnee nur aus einem einzigen Grund zu dir gekommen: weil du Teresa Peppercorns Tochter bist. Sie war stur, schlau und hat immer viel zu viele Fragen gestellt, genau wie du. Und als ich sie kennenlernte, hatte sie eine Menge Ärger an den Hacken.«
Blüstav hielt inne, und Lettie sah etwas … Flinkes durch seinen Blick huschen, etwas Verschlagenes.
»Ich habe sie gerettet«, fuhr er fort. »Wir waren in Prossien, als Gefangene des Zaren. Es war nur noch eine Stunde bis zu unserer Hinrichtung. Aber einen Meister-Alchemisten wie mich konnte der Zar nicht lange in einer Zelle festhalten …«
Der Wind fuhr ihm mit einer zornigen Böe ins Wort.
»Nachdem wir aus Prossien geflohen waren«, erzählte Blüstav mühsam weiter, »nahm ich Teresa als Lehrling auf und brachte ihr alles bei, was ich weiß …«, der Wind blies wieder wütend dazwischen, und Blüstav begann an seinem Seil herumzuwirbeln, »… aber dann hat sie mich verraaaaateeeeen!«
Er konnte nicht mit seiner Geschichte fortfahren, denn der Wind hinderte ihn daran. Er zog und zerrte so heftig an ihm, dass Blüstav wie eine Wetterfahne kreiselte.
»Aufhören!«, flehte er, und sein Gesicht verschwamm zu einer unscharfen Wolke. »Hilfe! Holt mich runter!«
»Lass ihn in Ruhe!«, schimpfte Lettie mit dem Wind. »Lass ihn erzählen!«
Sie wollte Blüstav schon herunterziehen, aber Noah hielt sie zurück.
»Der Wind ist wütend, weil Blüstav lügt«, sagte er. »Nicht weil er erzählt.«
Und da verstand Lettie plötzlich. Natürlich log Blüstav sie an! Das lag ihm im Blut. Der Wind spürte es und versuchte die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Lettie ärgerte sich, dass sie nicht selbst darauf gekommen war. Jetzt, da die Wirkung des Äthers nachließ, waren Blüstavs Augen besser zu durchschauen.
Lettie Peppercorn, du blauäugige Närrin!
»Also gut!«, rief sie. »Das reicht jetzt!«
Der Wind hielt inne. Blüstav dümpelte wimmernd an seinem Seil in der Luft.
»Ich habe Ihre Lügen satt!«, sagte Lettie. »Wenn Sie noch einmal lügen, lasse ich Sie vom Wind so lange herumwirbeln, bis Sie die Wahrheit heraus kotzen !«
Blüstav klappte den Mund auf und zu, aber es kam kein Ton heraus.
»Jedes Mal, wenn Sie die Wahrheit verbiegen oder sie verdrehen, wird der Wind Sie verbiegen und verdrehen.« Lettie machte es sich an Deck gemütlich. »So wird es sein. Und zwar so lange, bis die ganze Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist. Verstanden?«
Blüstav nickte.
Und dann begann er – langsam und zum allerersten Mal in seinem Leben – die Wahrheit zu erzählen.
2. Kapitel
Die Erschaffung des Schnees
Blüstav und Teresa lernten sich in einem unterirdischen Verlies kennen, irgendwo in Prossien. Das Gefängnis hatte der Zar erbauen lassen, der Herrscher über das Land der dunklen Wälder. Blüstav und Teresa sollten beide am gleichen Tag hingerichtet werden, und zwar auf eine besonders grausame Art, die mit nichts außer einem Teelöffel und zwei Fässern Rote-Bete-Suppe zu tun hatte.
Blüstav war eingesperrt worden, weil dem Zar zu Ohren gekommen war, er habe sich von einem seiner Erzfeinde alchemistische Bücher »ausgeliehen«
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