Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Treppenschnecken, die sich zu mit Fenstern gesprenkelten Turmspitzen hochwanden, glitzerten im Sonnenlicht. Tränen schossen Lettie in die Augen. Nicht nur weil der Eisberg das Schönste war, was sie je gesehen hatte, sondern auch weil sie wusste, dass ihre Mutter sie hierhergeführt hatte.
Der Wind war überall um sie herum. Er zerzauste ihr die Haare, als wollte er sagen: Schau, wohin ich dich gebracht habe! Freust du dich?
»Das ist Mamas Labor«, flüsterte Lettie. »Von dem Blüstav erzählt hat. Der Ort, an dem sie den Schnee erschaffen hat.«
»Es ist unglaublich schön!« Noah lächelte so breit wie seit dem Untergang seines Bootes nicht mehr. »Was auch immer der Wind dich finden lassen wollte – hier muss es zu finden sein.«
Lettie nickte. Angst stieg auf einmal in ihr auf. Die Reise hierher war so lang gewesen – sie war per Schiff, per Floß und per Ballon gereist. Sie hatte so gefroren, wie sie es sich nie hätte vorstellen können, und sie hatte miterlebt, wie sich ihr Vater in eine Bierflasche verwandelt hatte. Sie hatte einem Schiff Flügel verliehen und war übers Wasser gewandelt, ohne unterzugehen. Jetzt war sie drauf und dran, die Wahrheit über ihre Mutter zu erfahren und wo sie all die Jahre gesteckt hatte. Da war sich Lettie ganz sicher. Bald, ganz bald würde sie alles wissen. Endlich.
Aber in einem Punkt fühlte sie sich ganz und gar nicht sicher: War sie überhaupt schon bereit, die Wahrheit zu erfahren? Vielleicht wollte sie die Wahrheit ja gar nicht wissen? Vielleicht war die Wahrheit ja auch unvorstellbar traurig oder fürchterlich?
Sie drehte sich zu Blüstav um, der sich an einem Kandelaber verhakt hatte. Falten, die ihr noch nie aufgefallen waren, durchzogen sein Gesicht. Er hatte inzwischen so viele Stromschläge abbekommen, dass ihm die Haare nach allen Seiten abstanden. Bei jedem Atemzug sprühten winzige Funken aus seinem Mund. Er sah zu Tode erschrocken aus.
»Sie wird bald kommen«, sagte er und schluckte. »Und sie wird sicher nicht begeistert sein, mich zu sehen.«
Lettie blickte zur Tür, als erwartete sie, ihre Mutter von dort kommen zu sehen. Aber dann erschien ihre Mutter genau auf dieselbe Weise, wie sie zehn Jahre zuvor verschwunden war: durch das Fenster.
Ja, genau so geschah es.
Eine plötzliche Windböe pustete eine Wolke bunter Kleidung durchs Fenster herein. Eine Ledermütze war zu sehen, an der eine Brille befestigt war, ein langer blauer, bis obenhin zugeknöpfter Mantel und dazu braune Gummistiefel. Der Wind brachte alles herein und wirbelte es durch den Raum. Sessel und Töpfe wurden umgeworfen, vergilbte Papierstapel wie Konfetti hochgeschleudert. Schließlich landeten die Stiefel auf dem Boden und kamen auf das Fenster zugehüpft, vor dem Lettie stand. Ein Stiefel sprang auf den anderen und stieß das Fenster zu. Klickend schnappte der Fensterriegel ein, der Wind erstarb. Und alle Kleidungsstücke fielen zu einem bunten Haufen am Boden zusammen.
Lettie sah mit offenem Mund zu, wie die Gummistiefel zu den Kleidern zurückhopsten, die langsam die Gestalt eines Menschen annahmen. Die Stiefel krochen unter den Mantelsaum, der Mantel stellte sich aufrecht hin und setzte sich da, wo ein Kopf sein sollte, die Ledermütze samt Brille auf.
Schließlich bewegte sich die Gestalt auf Lettie zu, wobei sie ein Paar zusammengeflickte Handschuhe aus den Manteltaschen zog. Die Frau – denn die Gestalt war eindeutig weiblich, wenngleich komplett durchscheinend – zupfte zwei unsichtbare Dinge aus Letties Fingern und ließ je eines in jeden Handschuh fallen. Dann bewegten sich die Handschuhe, und für Lettie war klar, dass jetzt Hände darin steckten – unsichtbar zwar, aber es waren eindeutig Hände.
Und nun endlich beugte sich die Frau zu Lettie herunter und nahm sie in die Arme. Es war überwältigend, einfach unfassbar. All die Traurigkeit und Einsamkeit, die Lettie über die Jahre aufgestaut hatte, wurden einfach aus ihr herausgedrückt, und sie erwiderte die Umarmung. Denn es war ihre Mutter, die sie da umarmte. Das wusste sie, das spürte sie, auch wenn sie sie nicht sehen konnte.
Und es war wundervoll.
Teil III
Im Inneren des Eisbergs
Verwandelt euch aus toten Steinen in lebendige Philosophensteine!
Gerhard Dorn, Philosophia Speculativa
1. Kapitel
Mama
Es fühlte sich an wie ein Traum. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Letties Mutter hatte die Arme um ihre Tochter gelegt, und es war, als wäre sie das Ende der Welt, das Geländer, das
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