Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
sich eigentlich niemand so richtig auskennt. Aber ich glaube, die Grundsubstanz ist Liebe.«
Lettie lächelte. Das glaubte sie nicht nur, das wusste sie.
»Aber mach dir nichts vor, Lettie, einfach wird es nicht. Liebe macht Dinge möglich, nicht einfach .« Letties Mutter saugte nachdenklich an ihrem Strohhalm. »Und jetzt bin ich so weit, dir die Geschichte zu erzählen«, sagte sie schließlich. »Ich wollte warten, bis ihr euren Tee getrunken habt. Denn es ist eine bittere Geschichte, und es ist besser, etwas Süßes im Magen zu haben, wenn man sie zu hören bekommt.«
2. Kapitel
Lettie Peppercorns Entstehungsgeschichte
Die Wahrheit ist: Lettie wurde nicht auf demselben Wege geboren wie andere Kinder. Sie war etwas Besonderes, etwas Einzigartiges. Sie schlüpfte eines Sonntagnachmittags aus dem Kessel. Teresa griff hinein, hob sie heraus – und da war sie. Ein wunderschönes Baby, aus Alchemie und Liebe geboren. Sie hatte große, herrliche Augen. Sie schlug sie auf und sah Teresa an, und die sagte: »Hallo, Lettie Peppercorn. Ich bin deine Mama.«
Vor Lettie hatte Teresa ewig auf ein Baby gewartet.
»Warum dauert es so lange?«, hatte sie gefragt.
Und jeder hatte eine andere Antwort: Doktor Nickles empfahl mehr Untersuchungen, Pater Gumpfrey mehr Gebete, und auf Seite 64 des Buches »Alles über Ihr erstes Baby« von Schwester Mary Prell wurde »weiter geduldig warten« empfohlen.
Aber Teresa hatte die Nase voll vom Warten. Sie war verzweifelt. Und das sagte sie auch.
»Ich habe die Nase voll vom Warten! Ich bin verzweifelt. Henry, gib mir bitte meinen Kessel!«
»Du willst ein Baby mithilfe von Alchemie machen?«, fragte er.
»Ja.«
»Geht das denn überhaupt?«
Die Frage war nicht ganz unberechtigt. Alle anderen Alchemisten hatten nur Interesse daran, Blei in Gold zu verwandeln. Keiner war je auf die Idee gekommen, ein Kind zu machen. Dafür gab es auch kein Rezept. Teresa würde sich alles selbst zusammenreimen müssen.
»Aber sicher geht das. Schließlich hab ich letzten Frühling aus einem Kieselstein Periwinkle gemacht.«
»Ja, aber das ist doch etwas anderes. Es geht um ein Kind.«
»Ganz recht, Henry. Es ist etwas anderes. Deswegen brauche ich auch deine Hilfe.«
Am schwierigsten war die Frage, womit sie überhaupt anfangen sollten. Nächtelang diskutierten Teresa und Henry über die unzähligen Stoffe, aus denen sie Lettie machen konnten.
»Wie wär’s mit Holz?«
»Nein, Holz ist zu tückisch. Da holt man sich leicht Splitter.«
»Gold?«
»Red keinen Unsinn, Henry. Ein Kind, das aus Gold gemacht wurde, kann doch nur ein verzogenes Gör werden!«
»Wasser?«
»Ach, wir wollen doch keine Heulsuse haben. Und das Meer ist so wankelmütig, das heißt, sie wäre immer launisch. Hach je, irgendwie passt so gar nichts!«
Tausendundeine Möglichkeiten gingen sie durch, und keine erschien ihnen richtig. Das Problem war: Teresa wollte Lettie erschaffen, nicht sie einfach nur herstellen. Lettie sollte erst wachsen und dann irgendwann selbst entscheiden, wer sie sein wollte. Sie sollte die Freiheit haben, ihr Leben selbst zu gestalten.
Dann las Henry eines Tages einen Satz vor, der von Seite 81 aus »Alles über Ihr erstes Baby« stammte: »Wenn ein Baby geboren wird, ist sein Leben wie eine noch unbeschriebene Schiefertafel.«
»Perfekt!« Teresa klatschte in die Hände und küsste ihn.
»Du willst das Baby aus Schiefer machen?«, fragte Henry.
»Nimm doch nicht immer alles so wörtlich, Liebster. Benutze deine Vorstellungskraft. Wir werden ein bisschen Granit nehmen, ein bisschen Feuerstein, ein bisschen Strandkies …«
Und so war es entschieden: Teresas und Henrys Baby würde aus Stein gemacht werden.
Natürlich würde ein aus Stein gemachtes Kind einige Eigenschaften von Stein haben. Und in der Tat, als Lettie älter wurde, stellte sie sich als robust, verlässlich, unnachgiebig und geduldig heraus. Aber sie war auch in der Lage, ihr eigenes Schicksal selbst zu gestalten und zu formen wie einen unbehauenen Stein. Und das gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten, die man als Mensch haben muss.
Michelangelo war ein Bildhauer, dem man nachsagte, er könne, wenn er einen Steinklotz betrachtete, sofort das darin verborgene Kunstwerk sehen. Er musste nur noch die Stücke wegmeißeln, die nicht gebraucht wurden. Genau so war es auch bei Lettie. Teresa schaute sich die Steine an, die um Tauschdorf herumlagen, und sie sah darin ein Kind, das nur geduldig darauf wartete, Leben
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