Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
konnte.
»Ja, gut möglich«, sagte sie schließlich, und ihr Herz wummerte.
»Es muss einfach so sein«, sagte Noah. »Es muss eine Verbindung geben zwischen dem Verschwinden deiner Mutter und dem Wind von Albion.«
»Noah, du bist ein Genie!«, rief Lettie aus. »Ein absolutes Genie! Jetzt weiß ich, was wir zu tun haben!«
Blüstav, der endlich zu jammern aufgehört hatte, um die beiden zu belauschen, sagte: »Und zwar?«
»Wir müssen einen Weg finden, dem Wind dahin zu folgen, wohin er weht!«
»Aber wie?«, fragte Noah. »Mit einem Stück altes Seil und einem löchrigen Koffer?«
»Nein«, sagte Lettie. »Mit etwas anderem.«
»Unmöglich!«, schrie Blüstav. »Wir haben doch nichts anderes.«
»Doch«, beharrte Lettie. »Wir brauchen nur ein bisschen Fantasie. Noah, kannst du Ranken wachsen lassen? So richtig dicke, starke Ranken?«
»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Hab ich jedenfalls noch nie probiert.«
»Dann probier es jetzt.«
Und schon nach wenigen Minuten, in denen Noah sich unter Aufbietung aller Kräfte konzentriert hatte, wanden sich dicke, krause Ranken an seinen Schultern hinab.
»Mach sie so lang wie nur möglich«, sagte Lettie.
»Wofür brauchen wir sie denn?«, fragte Noah.
»Für einen Ballon«, antwortete sie.
Blüstav lachte heiser. »Bedaure, dir das sagen zu müssen, aber man braucht schon ein bisschen mehr als ein paar Ranken, um einen Ballon zu bauen. Man braucht etwas, was schweben kann.«
Lettie sah wortlos zu ihm hoch.
Da blieb Blüstav das Lachen im Halse stecken. Er verzog das Gesicht. »Oh nein!«
»Oh doch«, sagte Lettie.
»Oh nein«, wiederholte Blüstav. »Nein, nein und nochmals nein. Ich bin kein Ballon, ich bin ein Mensch!«
»Sie schweben«, beharrte Lettie. »Das reicht.«
»Aber ich habe Höhenangst!«, winselte der Alchemist. »Drei Meter über dem Boden zu schweben ist schon beängstigend genug.«
»Meinst du, das genügt?«, fragte Noah erschöpft. Dicke Rankenseile lagen zu seinen Füßen.
Lettie lächelte. »Perfekt.«
»Das kannst du nicht machen!«, brüllte Blüstav.
»Doch, das kann ich«, sagte Lettie.
Und sie machte.
10. Kapitel
Es geht hoch hinaus
Die aufgehende Sonne tauchte das Meer in einen goldenen Schein. Es war ein atemberaubender Anblick. Lettie und Noah arbeiteten schnell. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie den Ballon fertig. Der Korb war im Grunde ein Netz aus Ranken, eine Art Hängematte, die an Blüstavs Armen und Beinen festgebunden war. Und in dieses Netz legten sie den geöffneten, leeren Koffer als Sitzmöglichkeit. Es gab kein Luftruder und keinen Ballast und damit keinerlei Chance, den Ballon nach rechts oder links, oben oder unten zu steuern. Lettie würde einfach auf den Wind vertrauen müssen.
Und auch der Wind war, soweit sie es beurteilen konnte, unsicher und ängstlich. Immer wieder zupfte er an ihr, als wollte er sie zur Eile antreiben.
Schließlich waren sie so weit.
Jetzt, wo es hell war, konnten sie schon die Blutkübel hinter sich sehen. Mit dröhnenden Motoren kam sie angeschossen. Es würde ein knappes Rennen werden, eindeutig.
»Los, rein!« Noah stieg in den Koffer.
Lettie zog prüfend an den Ranken. Ja, sie waren stabil genug, sie würden halten. Am gefährlichsten schien es ihr, dass der Wind möglicherweise zu übereifrig werden und die beiden Passagiere aus dem Korb pusten könnte. Lettie schlang Arme und Beine um die Ranken und klammerte sich fest.
»Fertig!«, schrie sie über die immer lauter werdende Blutkübel hinweg.
Noah ließ einen Dorn aus seiner Schulter sprießen und schnitt damit die Bleigurte durch, mit denen Blüstav verankert war. Als der erste Gurt lose war, schoss der Ballon sofort mit einer Seite in die Luft.
»Und jetzt der zweite!«, rief Noah.
»Beeil dich!«, schrie Lettie. Der Wind pfiff so laut um sie herum, dass es ihr in den Ohren wehtat und ihre Zähne klapperten. Sie sah die dampfbetriebene Harpunen-Kanone am Bug der Blutkübel . Tranmann Johnson lud gerade eine Harpune hinein. Das Walross hatte schon ihre Bazooka auf den Ballon gerichtet. Aber dann war plötzlich auch der zweite Gurt durchtrennt und fiel platschend ins Meer. Auf einmal schwebten sie hoch in der Luft.
Lettie sackte der Magen bis in die Kniekehlen, als sie himmelwärts schossen. Sie sah nach unten, wo die wutverzerrten Gesichter der alten Schabracken immer kleiner wurden.
Über ihnen blähte sich Blüstavs Mantel, die Schneewolke drängte nach oben. Welche alchemistischen
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