Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Substanzen sie wohl so viel leichter werden ließen als Luft? Lettie nahm sich vor, ihre Mutter bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.
»Wir sind gerettet!«, rief Noah, und seine Blätter wandten sich der Sonne zu. »Und es tut so gut, sich endlich wieder warm zu fühlen.«
Immer höher ging die Fahrt. Die Wolken waren inzwischen so nah, dass man sie beinahe hätte berühren können. Unter ihnen lag das Meer wie ein grellblaues Tischtuch ausgebreitet, das mal kleine Fältchen warf, mal sich wieder tadellos glättete. Die Blutkübel war winzig wie ein Spielzeugschiff. Lettie sah das breite weiße V, das sie ins Wasser schnitt, während sie dem Ballon folgte.
Sie holte ihr Fernrohr heraus, schob es auseinander, betrachtete das Walfängerschiff – und fing an zu kichern. Und innerhalb von Sekunden steigerte sich das Kichern zu einem so lauten Lachen, dass Lettie beinahe mitsamt dem Koffer umgekippt wäre.
»Vorsicht!«, schrie Noah.
Lettie unterdrückte den überwältigenden Drang zu lachen, senkte kurz das Fernrohr und wischte sich die Augen.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich keuchend. »Wenn du sie sehen könntest, müsstest du auch lachen.«
»Wen sehen?«
»Die Glotzerin und das Walross. Sie stehen da an Deck und starren zu uns hoch. Vor lauter Wut hat sich das Walross die Perücke vom Kopf gerissen und die Glotzerin ihre Brille zertrampelt.«
Noah kicherte. »Und was machen sie jetzt?«
Lettie schaute wieder nach unten. »Sie gehen aufeinander los. Die Glotzerin hat dem Walross gegen das Schienbein getreten! Oh, das ist ja unglaublich! Das Walross hüpft auf einem Bein. Die Augen treten ihr aus dem Kopf, ihr Mehrfachkinn wabbelt. Aber so schlimm können die Schmerzen nicht sein. Sie will nur Zeit schinden, um zurückzuschlagen. Die Glotzerin ist schon davongestürmt.«
»Ich glaube nicht, dass sie …«, setzte Noah an.
»Wow!«, schrie Lettie. »Da hat das Walross ihr aber eine verpasst! Dabei dachte ich, die kann sich nur schnell bewegen, wenn ein Kuchen in Greifweite ist. Jetzt hat sie die Glotzerin an einem Fußknöchel gepackt und hält sie fest. Die alte Schachtel kreischt und versucht sich freizustrampeln, aber vergeblich. Das Walross hält sie kopfüber hoch und … oh, jetzt tunkt sie die Glotzerin mit dem Kopf ein!«
Noah grinste. »Ins Meer?«
»Nein, in ihren Teekannenkopf. Sie tunkt sie ein wie einen Keks!«
Und so lachten Lettie und Noah Seite an Seite. Sie lachten und lachten, bis ihnen die Rippen wehtaten. Endlich! Sie waren frei. Sie waren zusammen. Und sie waren in Sicherheit.
Als klar wurde, dass die Ranken hielten, und der Wind sich etwas gelegt hatte, begann Lettie sich langsam zu entspannen. Es war so friedlich hier oben.
Sie drückte ihren Vater fest an sich. Um nichts in der Welt würde sie zulassen, dass er ihr aus der Tasche und ins Meer fiel. Aus dieser Höhe würde die Flasche mit Sicherheit zerbrechen. Lettie wurde ganz anders bei dem Gedanken, wie oft sie ihn in den vergangenen vierundzwanzig Stunden schon fast verloren hätte. Sie hielt die Flasche gegen die Sonne – aber es waren keine Sprünge im Glas zu sehen.
»Ich frage mich, wann er sich wohl zurückverwandeln wird«, sagte Lettie zu Noah.
»Ich denke, das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte er. »Er hat das Zeug ja richtig geschluckt. Das Walross und die Glotzerin haben es nur auf die Haut bekommen und sind immer noch verwandelt.«
»Er sieht ziemlich mitgenommen aus«, sagte sie. »Alles voller Schaum.«
Noah lächelte. »Ich weiß genau, wie er sich fühlt. Aber ich bin froh, dass ihm nichts passiert ist.«
»Ich auch.« Und Lettie meinte es ernst, was sie selbst etwas überraschte. »Ich hab immer gedacht, der Mann ist nichts als ein Ärgernis, aber das stimmt nicht. Er ist auch mein Papa, und das ist doch was. Auch wenn er die meiste Zeit kein besonders guter Vater war – er ist und bleibt mein Vater.«
»Er wird ein besserer Vater sein, wenn er sich zurückverwandelt hat, da bin ich mir sicher«, sagte Noah.
»Ja, ich mir auch«, sagte Lettie leidenschaftlich. »Und das sollte er auch! So lautet das erste Gesetz der Alchemie: Alles verändert sich.«
Noah zog eine Augenbraue hoch. »Du klingst aber ziemlich verärgert.«
»Klar bin ich verärgert. Ich bin sauer auf Papa. Und ich mache mir Sorgen und ich hab Schuldgefühle und ich bin frustriert … Aber ich liebe ihn auch. Das fühle ich mehr als alles andere.« Sie drückte die Flasche fest gegen die Brust und
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