Letzte Ausfahrt Neckartal
kunterbuntem Kleid saß hinter ihrem Kuchenteller und schob schweigend eine Cremetorte in sich hinein. Am nächsten Tisch las ein Mann mit Anzug und Krawatte den »Schwarzwälder Boten«. Kaffeetasse und Teller waren bereits leer. Auch die Menge der Zeitungen auf seinem Tisch legte die Vermutung nahe, dass er sich schon seit einer ganzen Weile so die Zeit vertrieb.
Im nächsten Raum waren einige Tische leer. Schließlich kam eine junge Familie mit drei Kindern in Treidlers Blickfeld, die bestimmt ein Dutzend leerer oder halb voller Cola-Gläser vor sich stehen hatten. Zwei Kinder zankten sich lauthals.
Treidler erreichte den Durchgang zum letzten Raum, in dem sich auf der rechten Seite die Tische entlang einer ledernen Sitzbank reihten. Da vernahm er den gedämpften Klingelton eines Mobiltelefons. Im nächsten Moment erblickte er zwei Tische entfernt einen Mann mit hagerem Gesicht und einer blaurot gekringelten Wollmütze. Durch die eingefallenen Wangen und seine dunklen Augenringe wirkte er fraglos älter, als er war. Treidler schätzte ihn höchstens auf Mitte sechzig. Über dem knochigen Schädel spannte sich eine gräuliche, kaum faltige Haut. Auf den Wülsten über seinen Augen wuchsen keine Brauen, und falls er überhaupt Kopfhaare besaß, steckten sie unter der Mütze.
Der Mann wirkte nervös, und in seinem Gesicht spiegelten sich Anspannung und Unruhe. Hektisch drückte er auf einem veralteten Mobiltelefon aus bläulichem Kunststoff herum. Und einen Moment später wusste Treidler, wer der Mann war: Melchior hatte tatsächlich ihren Termin gefunden.
»Anfängerfehler.« Melchior ließ sich auf einen Stuhl gegenüber der Sitzbank fallen. Sie hielt dem Mann ihr Telefon vor die Nase, während das seine weiterklingelte. Schließlich drückte sie den Knopf, um den Anruf zu beenden. Das blaue Plastiktelefon in der Hand des Mannes verstummte.
»Sind Sie Edgar?«
Der Mann deutete ein Kopfnicken an, und seine Schultern sanken nochmals ein Stück nach unten. Er legte das Telefon auf den Tisch zwischen ein volles Glas Wasser und ein kleines Fläschchen in Form eines Inhalators, das Treidler schnell als Asthmaspray identifizierte.
»Und wie weiter?« Er setzte sich auf den freien Platz neben Melchior.
»Es ist nicht nötig, dass Sie das wissen.«
Melchior warf Treidler einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder zu Edgar. »Seit wann sitzen Sie hier?«
»Die ganze … Zeit schon.«
»Und warum haben Sie uns dann nicht kontaktiert?« Melchiors Stimme klang verärgert.
»Weil ich … weil ich nur mit Ihnen verabredet war«, entgegnete er. »Hören Sie … lassen wir die Fragerei über mich. Ich denke … Sie sind nicht wegen mir hier.« Er hörte auf zu reden, aber seine blutlosen Lippen blieben ein Stück geöffnet. Nur so konnte er offenbar mit seinen kurzen, gepressten Atemzügen genügend Sauerstoff einatmen.
»Sie waren vor einigen Jahren als Ermittler für das Haager Tribunal im Kosovo, in der Nähe von Plakovje, eingesetzt.«
Edgar nickte ein paarmal und blickte dem Kellner nach, der mit einem leeren Tablett vorbeihuschte.
»Allein?«
Seine rasselnden Atemzüge wurden schneller. »Nein. Wir waren eine Gruppe von zwölf Leuten. Kriminalisten, Techniker, Forensiker, Dolmetscher und so weiter.«
»Auch vom BKA ?«
Erneut nickte er.
Das Zanken der Kinder drang aus dem Nebenraum. Dann die herrische Stimme des Vaters, der sie zur Ruhe rief.
»Und Sie? Zu welchem Verein gehörten Sie?«, erkundigte sich Treidler.
Edgar musterte ihn aus seinen müden Augen. » BKA .«
»Welche Abteilung?«
»Keine, die Sie kennen«, gab Edgar schnell zurück und begann zu husten. Es klang wie das Bellen eines Hundes. Nur die pfeifenden Atemgeräusche passten nicht.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Melchior mit besorgter Miene.
»Ja«, ächzte er. »Jedenfalls das, was noch in Ordnung sein kann.«
Gläser und Tassen klirrten, als der Kellner einen nahen Tisch abräumte.
Treidler wartete, bis er mit einem vollen Tablett den Raum verlassen hatte. »Erzählen Sie uns von dem Mehrfachmord.«
»Wir wussten schon lange, dass sich in Plakovje etwas abgespielt hatte.« Edgar sprach abgehackt, und jedes Wort schien ihm schwerzufallen. »Im Grunde kannten alle Bewohner der näheren Umgebung den Vorfall aus dem März neunundneunzig.« Er rang um Atem. »Doch dort haben ausschließlich Serben gewohnt, und die wollten nicht mit uns zusammenarbeiten. Eine ältere Frau, eine Serbin aus dem Nachbardorf,
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