Letzte Ausfahrt Oxford
versehen war. Außerdem führte ich eine handgeschriebene Bestätigung ihrer Großnichte Miss Joan Westgate mit, die mich autorisierte, Verhandlungen über einen eventuellen Verkauf weiterer Bände aus ihrer Sammlung zu führen, falls die University of California in Santa Luisa daran interessiert sei.
Der Flug nach San Francisco ist lang, und die Filmauswahl entsprach überhaupt nicht meinem Geschmack. Daher muss ich gestehen, dass ich einer leisen Anwandlung von Neugier folgend ein Paar weiße Baumwollhandschuhe überstreifte und Dead – and Alive! 1zu lesen begann.
Ich hoffe, mein Lachen hat die Mitreisenden nicht allzu sehr gestört. Zwischen den dunkelgrünen, goldgeprägten Einbänden fand ich die Geschichte zweier junger Männer, die in die gleiche Frau verliebt waren. Es ging um Identitätsverlust, um Fälschung und falsches Spiel, um den Bericht von einem Todesfall und die Übernahme eines Lebens durch einen Fremden; das Buch handelte von Wahnsinn und Mord, über Bigamie und Erpressung. Kaum eine Person wurde eingeführt, ohne dass ihr Doppelgänger ein paar Seiten weiter ebenfalls auftauchte.
Nach der Hälfte des zweiten Bandes hatte ich den Überblick über die Handlung völlig verloren, doch die unglaubliche Sprachfülle riss mich mit. Allerdings vermute ich, dass die schier unbezwingbaren Lachanfälle, die mich bei jeder neuerlichen Unwahrscheinlichkeit der Geschichte überfielen, nicht unbedingt von der Autorin beabsichtigt waren.
Das Ausmaß, mit dem Miss Baughn Zufälle eingeflochten hatte – sie nannte sie Göttliche Vorsehung – würde heutzutage in einem Thriller vermutlich nicht mehr geduldet.
Als ich allerdings ein paar Wochen später der kalifornischen Bibliothek einige weitere Bände überbrachte, blieb mir das Lachen über die übertriebenen Unwahrscheinlichkeiten der Miss Baughn im Hals stecken. Nachdem ich den Inlandflug nach Santa Luisa hinter mich gebracht hatte und endlich aus dem Flughafengebäude in den strahlenden kalifornischen Sonnenschein hinaustrat, befürchtete ich zunächst, meine Augen hätten dem grellen Widerschein der Sonne auf weißem Beton nicht standgehalten, denn ich war fast sicher, ein bekanntes Gesicht aus Oxford gesehen zu haben. Ich blinzelte, griff in meine Reisetasche, fand die Sonnenbrille, setzte sie auf und drückte mich in den Schatten des Gebäudes. Sie ging auf einen roten Honda zu. Jenna. Sie befand sich in Begleitung einer jungen Frau und trug einen kleinen Koffer. Wahrscheinlich hatte die Freundin sie soeben vom Flughafen abgeholt, und ebenso wahrscheinlich war sie mit dem gleichen Flugzeug gekommen wie ich. Ich hoffte inständig, dass sie mich nicht gesehen hatte. Mein Reiseziel war niemandem bekannt gewesen. Warum nur hatte ich das Geschwätz des Mädchens nie wirklich beachtet? Bestimmt erzählte sie schon seit Wochen in der Bibliothek herum, dass sie ihre Ferien in Kalifornien verbringen würde.
Ich war zu leichtsinnig geworden. Bisher war alles glatt gelaufen, und allmählich begann Geld zu fließen. Tatsächlich erhielt nur Santa Luisa als unsere erste und höchst respektierte Kundin den persönlichen Lieferservice. Ansonsten benutzten wir den Postweg, denn wen interessieren schon Bücherpakete, die von einer Universitätsbibliothek zur anderen geschickt wurden?
Wieso war Jenna ausgerechnet in dieses winzige Nest gekommen? Es war nur ein Dorf am Meer, mit ein paar Häusern im spanischen Stil und Massen blutroter Blumen, die in allen Gärten und über jede Mauer wucherten. Ich wartete, bis der Honda abgefahren war. Dann stieg ich in ein Taxi und gab den Namen meines Hotels an.
Hoffentlich, Miss Baughn, gehen nicht allzu viele Ihrer verschleierten Prophezeiungen in Erfüllung. Zugegebenermaßen hatte mich der Vorfall ziemlich aus der Fassung gebracht. Was sollte ich antworten, wenn Jenna mich fragen würde, was ich in Santa Luisa mache, und warum ich meine Reise in Oxford nicht erwähnt hätte? Sollte ich eine heimliche Liaison mit einer verheirateten Frau erfinden? Würde Jenna mir glauben? Würde überhaupt jemand, der mich kennt, so etwas glauben?
Unser Unternehmen expandierte recht nett. Immer mehr Universitätsbibliotheken erfuhren von den »Bookfinders« und ihrem diskreten, weltweiten Service. Der Eiserne Schuh belieferte zwielichtige, kleine Bibliotheken in aller Welt mit seinem scheinbar nicht zu erschöpfenden Vorrat an frühfeministischer Literatur. Inzwischen waren wir dabei, unsere Fühler nach anderen Jahrhunderten und neuen
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