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Letzte Beichte

Letzte Beichte

Titel: Letzte Beichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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abschneiden konnte. Ich hätte ihn gern über das Opfer befragt. Wer war sie? Welche Verbindung bestand zwischen ihm und ihr? Aber ich durfte nicht über die Tat mit ihm sprechen, und Jeremy sah verängstigt genug aus: Jemand hatte ihm eine heftige Tracht Prügel verpasst.
    »Was ist passiert?«
    »Nichts«, antwortete er und sah nervös über meine Schulter.
    »Sie können es mir sagen«, flüsterte ich.
    »Nichts«, flüsterte er zurück.
    Ich versuchte eine Zeitlang, ihm die Geschichte zu entlocken, indem ich auf das Anti-Schikane-Plakat an der Wand hinwies und so weiter. Aber er hatte Angst. Dauernd sah er sich um, wer in den anderen Befragungsräumen saß. Ich war klug genug, um zu wissen, dass es zwar nicht schön ist, verprügelt zu werden, aber noch schlimmer, jemanden zu verpfeifen. Also setzte ich ihn nicht unter Druck.
    »Sagen Sie es niemandem. Vor allem Amanda nicht. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht«, sagte er.
    »Ich muss für einen Bericht wie diesen nicht mit Amanda sprechen«, sagte ich.
    »Sie würde Ihnen gefallen«, sagte er und erinnerte sich, wie er sich bei ihrer ersten Begegnung Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Sie habe ein so faszinierendes Lächeln gehabt, sagte er, und sie habe viel gelacht. Er liebe ihr Lachen.
    »Bitte sagen Sie ihr nicht, dass ich schikaniert werde, versprochen? Bitte reden Sie nicht mit ihr«, bat er.

[Menü]
11
    Eine Woche nach der Hochzeit nahm Amanda Jeremy nach Glasgow mit. Sie waren in London mit hoher Geschwindigkeit aufgebrochen, aber hinter Penrith verlangsamten sie ihre Fahrt ein bisschen, weil Amanda Jeremy einen blies.
    Nach fünfstündiger Fahrt erschien Schottland in Gestalt eines unscheinbaren weißen Schildes. Amanda erschauderte: Zehn Jahre war sie weg gewesen. Meistens nicht weit weg, aber weit genug, dass es sich wie eine vollkommen andere Welt anfühlte.
    Jeremy wäre vielleicht auch erschaudert, wenn er geahnt hätte, dass er Amanda bald noch einmal völlig neu kennenlernen würde. Nicht mehr nur Amanda Wild und Amanda Verrückt. Nicht mehr Amanda Rollenlos, Amanda Bezugslos. Sie würde jemandes Tochter sein, jemandes Schulfreundin, Ex-Kollegin. Sie würde eine alte Grundschule haben und Fotoalben und ein Lieblingscafé. Und Jeremy würde von Amandas Bezugsmenschen begutachtet werden – Menschen, die nichts mit seiner Welt zu tun hatten.
    Jeremy war noch nie in Glasgow gewesen, aber als sie in die Stadt fuhren, war alles genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Eine schwere, undurchdringliche Wolke lastete irgendwo knapp oberhalb der Windschutzscheibe, und graue Hochhäuser säumten die Straße. Manche waren zur Verschönerung bunt angemalt worden, aber die meisten kamen ohne solche Verzierungen aus. Große blaue Schilder zeigten links nach Glasgow, geradeaus nach Glasgow, rechts nach Glasgow: Glasgow war überall. Da war er, der »grüne, liebreizende Ort«, doch weit und breit war kein Grün und kein Liebreiz zu sehen, sondern nurein Wirrwarr von Schildern, die in alle Richtungen wiesen und zu sagen schienen: »Wenn du nicht weißt, wo du bist, warum bist du dann eigentlich hier?«
    Sie fuhren durch das West End mit seiner geschlossenen Bebauung. Danach fuhren sie über die Great Western Road. Hier gab es große Bäume, Blumen auf dem Mittelstreifen und schöne viktorianische Stadthäuser zu beiden Seiten der Straße. Jeremy wurde etwas heiterer zumute: So war es schon besser. Aber dann wurden die Häuser kleiner und die Blumen welker, und schließlich zeigte Amanda nach links, und er bog in eine schäbige Straße mit schlecht instand gehaltenen Einfamilienhäusern ein.
    »Das ist unseres!« sagte sie vor Nummer 43. Er hielt an, küsste sie auf den Mund und fragte sich, ob das Mädchen, das in diesem Haus aufgewachsen war, dasselbe sei, das ihm irgendwo zwischen Penrith und Carlisle den Schwanz gelutscht hatte.
    Amandas Eltern waren älter, als er erwartet hatte – bestimmt an die siebzig –, und netter waren sie auch. Mrs. Kelly war rund und kurz, mit kräftigem grauen Haar und den Lachfalten eines ganzen Lebens. Ihr Mann – schlank, fit, mit Schnurrbart und Pomade im Haar – lächelte seltener, war deshalb aber nicht weniger liebenswert. Sie umarmten ihre Tochter (»Oh, mein Liebling!« sagte ihre Mutter ein ums andere Mal), sie umarmten ihn (»Willkommen in der Familie, Junge!«), und sie brachten eine Suppe auf den Tisch, die köchelte, seit Amanda zehn Meilen hinter Motherwell angerufen hatte.
    Das Haus war eine

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