Letzte Beichte
unheimlich impulsiv sein konnte und andererseits stundenlang auf dem Sofa herumlag und Anne auf Green Gables guckte. Er liebte ihre Familie und ihre Herkunft. Am meisten liebte er ihre Bereitschaft, sich von ihnen loszureißen und in London mit ihm ein neues Leben zu beginnen.
Bei der Hochzeitsfeier lächelte Jeremy seiner neuen Frau zu: Die Bruchstücke hatten zu einem Ganzen zusammengefunden – jetzt war sie vollständig.
Rot wirbelnder Teppich, zwanzig große, runde Tische und ein kleinwüchsiger DJ . Mindestens dreißig Leute über siebzig, die ihr Bier schneller tranken als mindestens fünfzig Leute unter dreißig. Kleine Kinder, die auf einer unnötig großen Tanzfläche im Kreis herumrannten. Ein Tisch, auf dem ein Kessel Hackfleisch neben einem Kessel Kartoffelbrei stand.
Jeremy liebte Kartoffelbrei, und als er den Kessel sah, fing er fast zu weinen an, weil er ihm seine schönsten und frühesten Erinnerungen ins Gedächtnis rief.
Die Feier hatte alles, was eine Hochzeitsfeier braucht:
Einen grabschenden Trunkenbold von Onkel.
Eine bewegende Ansprache des Vaters: »Gott hat uns dieses Mädchen geschenkt, und wir danken ihm täglich dafür.«
Eine in Tränen aufgelöste Mutter, die den Rausch ihrer Tochter ausnutzte und ihr das Versprechen abnahm, niemals wieder einfach so zu verschwinden. Sondern mindestens zweimal jährlich nach Hause zu kommen. Und auch sonst in Verbindung zu bleiben. »Versprich es mir, Mand! Versprich es mir!« sagte sie.
»Ich verspreche es!« sagte Amanda. Und sie meinte es so. Seit sie Jeremy kannte, wollte sie nicht immer nur fliehen.
Zum Schluss bildeten alle einen Kreis um das Brautpaar und sangen Auld Lang Syne. Es dauerte Stunden, bis sie sich von allen verabschiedet hatten, weil alle so viel zu sagen hatten:
Ich liebe dich.
Sag’s keinem weiter, aber du bist meine Lieblingskusine.
Du bist viel netter als dieser Peter Bishop, der schon wieder geschieden ist!
Alter, du bist so ein Glückspilz!
Wiedersehn, Junge.
Wiedersehn, Dad.
Wiedersehn, Mum.
Amanda kotzte die ganze Fahrt über. Sie fuhren erst auf der Great Western Road, dann am Loch Lomond entlang. Es ging am Aussichtspunkt »Rest-and-Be-Thankful« vorbei, durch Inveraray, zum Crinan-Kanal. Bei ihrer Ankunft war es drei Uhr nachts. Jeremy trug Amanda in das luxuriöse Schleusenhaus am Kanalufer, das sie für zwei Wochen gemietet hatten. Zwei ganze Wochen zum gemeinsamen Lesen, Spazierengehen, Reden, Kochen, Fischen und Liebemachen. Pures Glück.
»Scheiße, ich habe den Dielenteppich vollgekotzt«, sagte Amanda, und ihr Akzent war so stark wie der Alkoholdunst in ihrem Atem.
»Ist schon in Ordnung, Liebes. Ich mach’s sauber. Leg dich einfach hin und schlaf.«
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12
Immer wenn Leute mir gesagt haben, ich solle etwas nicht tun, hatte ich den überwältigenden Drang, es zu tun. Das geht schon mein ganzes Lebens lang so.
»Schau da nicht hin!«
»Kein Sex beim ersten Date.«
»Trink auf keinen Fall mehr als zwei Gläser von diesem Cocktail!«
»Bitte sprechen Sie nicht mit Amanda«, hatte Jeremy gesagt.
Ich kämpfte eine Zeitlang dagegen an, zumal es nicht den geringsten Grund für mich gab, Amanda einen Besuch abzustatten. Der Bericht erforderte eine halbstündige Befragung und eine halbe Stunde Tippen. Punkt. Ende der Geschichte. Er hätte längst fertig sein müssen.
Aber die Neugier fraß mich auf. Was war sie für eine Frau? Liebte sie ihn noch? Hielt sie ihn für unschuldig? Wer war das Opfer, diese Bridget McGivern? Kannte Jeremy sie? Und/oder Amanda?
Sobald ich von der Befragung in Sandhill zurückgekommen war, rief ich in dem Friseursalon an, in dem sie laut Jeremy arbeitete. Ein sehr mürrischer Chef hob ab und holte sie an den Apparat. Amanda wollte unbedingt etwas über ihren Mann erfahren, aber heute machte sie Überstunden.
»Können Sie vorbeikommen?« fragte sie und begann mit ihrem Chef im Hintergrund zu debattieren. »Ich mach ihr die Nägel!« hörte ich sie sagen.
Ich hasste Maniküren fast so sehr, wie ich Menschen hasste, die sich maniküren ließen. Meiner Ansicht nach waren Maniküren einem Teil der Gesellschaft vorbehalten, der keine Verwendung für seine Hände hat. Menschen, die lange Zeit dasitzen und darauf warten, dass der Nagellack trocknet: – schütteln und pusten, schütteln und pusten. Menschen, die zu viel Zeit haben, die nie etwas tippen müssen, deren schlimmste Furcht es ist, dass ihnen ein Nagel abbricht.
Als ich den
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