Letzte Beichte
konnten.
Da Chas’ Bewährungszeit vorüber war, beschloss ich, michauf eine Stelle in der Strafjustiz zu bewerben. Das war etwas ganz anderes als die Arbeit im Kinderschutz, die ich so lange gemacht hatte und die dazu beigetragen hatte, dass ich zwei Jahre zuvor nichts als ein ausgebranntes Häuflein Asche gewesen war – irgendwie sicherer, weil ich nur den Anweisungen des Gerichts folgen würde. Ich würde niemandem die Kinder wegnehmen oder irgendwelche Anschuldigungen erheben. Ich wäre Teil des Strafrechtssystems und könnte mir deshalb sicher sein, dass meine Klienten mich nicht bedrohen, verprügeln oder abgrundtief hassen würden. Eine Freundin hatte auch mit Straftätern gearbeitet und gesagt, das sei viel familienfreundlicher als der Kinderschutz. Und ich muss zugeben, dass ich die Vorstellung, den ganzen Tag mit schweren Jungs zu reden, immer noch so aufregend wie als Teenager fand.
Eines Abends, nachdem Robbie eingeschlafen war, füllte ich einen Bewerbungsbogen für eine Stelle als »Sozialarbeiterin im Strafrecht« aus. Ich schrieb einen prachtvollen Begleitbrief, in dem stand, dass ich teamfähig sei, dass ich mir über die erforderliche Balance von Betreuung und Kontrolle im Klaren sei, dass ich über herausragende Fähigkeiten im Zeitmanagement verfüge – und der ganze andere Scheiß, den sie hören wollten.
Am nächsten Tag brachte ich die Bewerbung zur Post.
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2
Als ich mich am Morgen des Vorstellungsgespräches anzog, wetteiferten dort, wo sich sonst mein Gehirn befand, Schuldgefühle, Selbsthass und Nervosität miteinander. War es die richtige Entscheidung gewesen, wieder arbeiten zu gehen? Oder hatte Zachs Mutti die bessere Wahl getroffen: Schatzmeisterin der Spielgruppe; Fahrdienst für vielversprechende Jungschwimmer, Turner, Baby-Yogis, Lied-Mitsinger und Ballfreunde; Köchin streng vorausgeplanter und streng beaufsichtigter Bio-Mahlzeiten (ohne Zusatzstoffe!); Mutter von Kindern, die wussten, wie man sich zu benehmen hat, und die ihr Alphabet und ihre Tastaturen kannten; Kämpferin gegen das Wort »bloß« als Vorsilbe von »Hausfrau«?
Oder hatte Marthas Mutti recht: Gelegenheitskifferin, die mit ihrer Kleinen herumkicherte und jeden Augenblick genoss, den sie mit ihr verbrachte, auch wenn sie manchmal vergaß, Abendessen zu machen? Andererseits, so argumentierte Marthas Mutti, würde die Kleine ja wohl nach etwas Essbarem fragen, wenn sie wirklich hungrig wäre, oder?
Oder war ich es, die recht hatte? Ja, genau: Ich! Die Frau, die in ihren Kleidern herumwühlt, dauernd »Verdammt« und »Scheiße« sagt, einen lauwarmen Lavazza hinunterstürzt und sich anschickt, Robbie in seinem warmen »Bob-der-Baumeister«-Schlafanzug zurückzulassen?
Als ich mich an diesem Morgen für mein Vorstellungsgespräch anzog, wusste ich, dass ich von allen drei Müttern diejenige war, die am wenigsten recht hatte.
Nachdem mir die Kraftausdrücke fürs Erste ausgegangen waren, zerrte ich meine alte Sozialarbeiterinnen-Montur ausdem Schrank (nicht zu förmlich à la »Ich bin hier die Vorgesetzte«, nicht zu leger à la »Mich könnt ihr ruhig schikanieren«) und gab meinem Sohn einen Abschiedskuss.
Wenn ich die Stelle bekam, wollte Chas den Robster mit ins Atelier nehmen. »Sei nicht so altmodisch, K«, hatte er gesagt. »Warum regst du dich auf? Ihm wird’s gutgehen!« Robbie würde einen Pinsel und ein paar alte Leinwände bekommen und seinen Spaß haben. Glaubte Chas. Zwei Jungs mit Farbe, die gemeinsam abhingen – was konnte da schon schiefgehen?
(Ha! Ich freute mich schon darauf, Chas diesen Erkenntnisgipfel erklimmen zu sehen.)
Chas und Robbie standen winkend in der Tür meines Elternhauses und strahlten mir hinterher, als ich die Straße hinabging und um die Ecke bog. Sobald ich verschwunden war, hörte ich in der Ferne, wie aus Robbies Gekicher ein Weinen wurde. Es war wie früher beim Stillen, als die Milch aus meinen Brüsten spritzte, sobald Robbie weinte – die Stärke der körperlichen Verbindung zwischen uns war erschreckend intensiv gewesen, aber auch wunderschön. Damals waren wir eins gewesen, und im Grunde waren wir es immer noch. Wenn auch keine Milch aus meinen Titten spritzte (Gott sei Dank, denn ich hatte ein hübsches schwarzes Hemd an), so berührte sein Weinen doch etwas in mir, das durch niemandes anderes Weinen jemals berührt werden konnte.
Ich rannte zu ihm zurück. Aber als ich bei ihm ankam, hatte Chas ihn schon abgelenkt, indem er ihn mit einer
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