Letzte Bootsfahrt
keiner da“, sagte sie. „Und sie hat mir auch nicht gesagt, dass noch jemand kommt.“
Sie stieg entschlossen die Stiege hinauf und klopfte an die Zimmertür der Katharina, hinter der es vollkommen ruhig war. „Katharina!“, rief die Christine. „Ich möchte mit dir reden. Wenn du nicht rauskommst, dann komm ich rein. Fünf Minuten Zeit!“ Die Christine kam wieder herunter. „Woher weißt du denn eigentlich, dass wer bei ihr ist?“, fragte sie. Gasperlmaier musste nun zugeben, dass er ohne zu klopfen in ihr Zimmer eingedrungen war. „Du weißt aber schon, dass Kinder auch ein Recht auf Privatsphäre haben, oder? Was wäre denn gewesen, wenn sie nackt vor dem Spiegel gestanden wäre? Mädchen tun das manchmal. Du musst lernen, ein bisschen Respekt zu haben.“ Gasperlmaier fühlte sich völlig missverstanden. War er jetzt etwa der Einzige, der etwas falsch gemacht hatte? „Außerdem“, fuhr die Christine fort, „du hast ja solche Angst gehabt, dass sie lesbisch ist. Die Sorge bist du jetzt wenigstens los.“ „Ich hab mir halt nichts dabei gedacht!“, verteidigte er sich etwas kraftlos. „Nichts dabei gedacht! So denk halt, bevor du was tust!“
Gasperlmaier hörte Schritte auf der Stiege. Mit gesenktem Kopf schlich die Katharina zur Tür herein. „Setz dich einmal hin“, sagte die Christine. Die Katharina gehorchte wortlos. „Dir ist schon klar, dass du uns hintergangen hast? Du lädst deinen Freund genau dann ein, wenn deine Eltern nicht zu Hause sind. Mit der klaren Absicht, das vor uns zu verheimlichen. Das finde ich nicht in Ordnung.“ Die Katharina blickte auf, und Gasperlmaier konnte den Trotz in ihren Augen schon sehen, bevor sie überhaupt zu reden anfing. „Ich hab ein Recht darauf, meinen Freund zu sehen! Ich bin kein Kind mehr!“ Die Christine seufzte. „Und wir haben ein Recht darauf, dass du offen mit uns umgehst. Du hättest fragen sollen, ob er kommen darf. Wir hätten zugestimmt, wenn wir ihn vielleicht vorher hätten kennenlernen dürfen.“
Die Christine warf Gasperlmaier einen Seitenblick zu, der ihm deutlich machte, dass er jetzt den Mund zu halten hatte. „Wo ist er denn überhaupt, dein Freund?“ Fast unmerklich zuckte die Katharina mit dem Kopf. „Oben, noch? Holst ihn runter?“ Die Katharina sprang auf. „Wollt’s ihr ihn jetzt vielleicht da vor Gericht stellen? Ein Tribunal oder so was veranstalten?“ Die Christine schüttelte lächelnd den Kopf. „Kennenlernen wollen wir ihn. Nicht wahr, Franz?“ Gasperlmaier sah auf die Uhr. Es war Mitternacht vorbei. Um sechs Uhr Früh würde er dabei zusehen müssen, wie der Sarg der Voglreiter Friedl aus dem Grab gehoben werden würde. „Franz“, die Anrede bedeutete allerdings, dass die Situation ernst und jeder Widerspruch zwecklos war. Er hoffte, das Kennenlernen würde nicht allzu lange dauern.
Mit einem entrüsteten Seufzer stürmte die Katharina aus dem Zimmer. Kurze Zeit später stand ein sichtlich peinlich berührter junger Mann im Wohnzimmer. Irgendwie kam er Gasperlmaier bekannt vor. Eigentlich, so fand er, sah er ganz harmlos und freundlich aus, kaum Bartwuchs, keine Tätowierungen, keinen Metallschmuck im Gesicht und auch sonst nichts Auffälliges. Außer, dass er sein langes Haar zu einem blonden Pferdeschwanz gebunden trug und ein paar Pickel im Gesicht hatte.
„Magst einen Kaffee?“, fragte die Christine freundlich, worauf der junge Mann den Kopf schüttelte. „Dann setz dich hin, und trink wenigstens einen Saft mit uns.“ Die Christine hatte einen beruhigenden Ton angeschlagen und deutete mit dem Kopf auf den freien Platz auf dem Sofa neben Gasperlmaier. Der konnte förmlich spüren, wie verkrampft der junge Mann war, als er sich setzte. Ihm selbst allerdings erging es nicht viel anders. Er hätte jetzt am liebsten die Bettdecke über den Kopf gezogen und das Licht abgeschaltet, so müde fühlte er sich plötzlich.
Die Christine kam mit vier Gläsern Saft zurück. „Darf ich dich fragen, wie du heißt?“ „Florian“, nuschelte er. „Florian Prieler“. Jetzt erinnerte sich Gasperlmaier, denn diesen Namen hatte er vor kurzem in ein Protokoll eingetragen. Der Florian hatte mit einer Gruppe anderer Jugendlicher nächtens eine Plätte aus einem Bootshaus geholt und eine Spritztour auf dem Altausseer See unternommen. Dabei hatten sie einen solchen Krach veranstaltet, dass nicht nur der Bootsbesitzer, sondern auch andere Seeanrainer munter geworden waren, bis schließlich einer die Polizei
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