Letzte Bootsfahrt
dicken Geldbörsen einen solchen Platz kaperten. Da, so dachte er, würde er sogar zum Terroristen werden, wenn man ihm das Kahlseneck wegnahm. Da war er bereit, zur Waffe zu greifen.
„Um Sicherheit zu bekommen, müssen wir jetzt einfach das Umfeld des Doktor Schwaiger näher erkunden“, fand die Frau Doktor wieder zum Thema zurück. „Und wenn wir da auf Überschneidungen mit dem anderen Fall stoßen, können wir auch an einen Zusammenhang denken. Vorläufig blenden wir das jetzt aber einmal aus.“ Von hinten näherte sich hupend ein Postbus. Gasperlmaier wandte sich um. Der Fahrer begann angesichts der blockierten Haltestelle wild zu gestikulieren und machte weiterhin ausgiebig von Hupe und Lichtsignalen Gebrauch. Als er sich auch noch auf die Stirn tippte, entfachte das den Zorn Gasperlmaiers. „Das ist doch …“, holte er aus, setzte seine Dienstmütze auf und machte sich daran auszusteigen. „Nicht, Gasperlmaier. Dafür haben wir jetzt keine Zeit.“ Unvermittelt startete die Frau Doktor den Motor und überließ die Haltestelle dem Bus. Wenige Minuten später standen sie vor der Haustür der Mutter, und Gasperlmaier wurde das Herz recht schwer angesichts der Aufgabe, die sie nun vor sich hatten.
Gasperlmaier läutete. Es dauerte nicht lange, bis die Mutter in der Tür erschien. Sie lächelte ihm ganz kurz zu, erkannte dann aber sofort am Gesichtsausdruck des draußen wartenden Trios, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist denn passiert?“, fragte sie, plötzlich blass geworden. „Ist etwas mit der Christine? Oder den Kindern? So red doch!“
„Mit der Christine und den Kindern ist alles in Ordnung, Mama“, sagte Gasperlmaier, nahm sie am Arm und betrat mit ihr das Haus. Die Frau Doktor und der Kahlß Friedrich drängten sich hinter ihm in den recht engen Vorraum, der schlagartig dunkel wurde, als der Friedrich das Rechteck der Haustür mehr oder weniger vollständig ausfüllte. „Setzen wir uns hin, Mama.“ Gasperlmaier steuerte sie zum Tisch in der Stube, um den sie schließlich alle Platz nahmen. „Mama“, begann Gasperlmaier, „es ist wirklich was Schreckliches passiert. Den Doktor Schwaiger haben sie umgebracht.“ Die Mutter starrte ihn mit offenem Mund an. Aus ihren Augenwinkeln lösten sich zwei Tränen, die sich über die Wangen auf ihren Weg machten. Gasperlmaier merkte, dass die Mutter Wanderkleidung trug. Anscheinend hatte sie schon darauf gewartet, vom Doktor Schwaiger abgeholt zu werden. Gasperlmaier wusste nicht weiter. Was sollte, durfte er sonst noch sagen? Die Mutter hatte immer noch nichts gesagt.
Plötzlich stand die Frau Doktor auf, setzte sich neben die Mutter auf die Bank und nahm sie in den Arm. Das, so fand Gasperlmaier nun, hätte er selbst tun sollen, aber er hatte einfach nicht daran gedacht. Er hatte seine Mutter noch nie in den Arm genommen, seit sein Bart zu wachsen begonnen hatte. Aber er hatte ihr auch noch nie eine Todesnachricht überbringen müssen. Überhaupt, fiel ihm ein, hatte er noch niemals jemanden davon unterrichten müssen, dass ein Verwandter oder ein Freund gestorben war.
Die Mutter hatte mittlerweile ein Taschentuch aus dem Ärmel gezogen und schluchzte leise vor sich hin. „Da ist man so lang allein!“, begann sie zu jammern. „Dann kommt jemand, mit dem man sich versteht, und der wird einem nach ein paar Tagen gleich wieder genommen.“ Die Frau Doktor strich ihr tröstend über den Rücken. Gleichzeitig warf sie Gasperlmaier böse Blicke zu. Anscheinend fand sie, dass er tröstende Worte finden sollte. Was aber konnte man in so einer Situation sagen? Und überhaupt war das mit dem Wortefinden seine Spezialität nicht, schon gar nicht, wenn es um Gefühle ging. Weibliche Gefühle. Abgesehen davon war Gasperlmaier ein wenig beleidigt, denn dass die Mutter allein gewesen war, das stimmte ja so nicht. Mindestens zweimal in der Woche hatte er sie besucht, oder sie war zu ihnen gekommen. Dass ihr der Doktor Schwaiger nach ein paar Tagen schon mehr bedeutete als ihre Familie, das ging ihm schon nahe. Gleichzeitig aber sagte ihm ein unbestimmtes Gefühl, dass er das vielleicht nicht gerade jetzt mit der Mutter besprechen sollte.
Die richtete sich auf und setzte einen entschlossenen Blick auf. „Hilft ja nichts“, sagte sie und wischte die Tränenreste von den Wangen. „Das Jammern. Hilft ja nichts. Geht es halt weiter wie davor. Gell, Franzl!“ Sie tätschelte Gasperlmaier die Wangen, dem das ungeheuer peinlich war. Fehlte nur noch,
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