Letzte Bootsfahrt
„Ich muss mir“, sagte sie, „jetzt einmal über die Fakten klar werden. Fassen wir zusammen: Jemand erschlägt nachts den Doktor Schwaiger, bringt ihn ins Bootshaus und legt ihn in die Plätte. Dann zieht er ihm die Hose hinunter. Eindeutig ein Verbrechen, das auf eine emotionale Beziehung zwischen Täter und Opfer hindeutet. Der Täter wollte das Opfer ausstellen, er will uns damit etwas zeigen. Was er uns zeigen will, muss irgendeinen sexuellen Charakter haben. Möglicherweise macht er uns auf ein sexuelles Vergehen aufmerksam. Untreue, Seitensprung, Verlassen der Ehefrau, was weiß ich.“
Gasperlmaier wurde bei ihrem Vortrag recht unwohl. Seine Mutter durfte da nicht hineingezogen werden, ganz egal, wer den Doktor Schwaiger auf dem Gewissen hatte. „Könnte es nicht auch sein, dass der Täter so etwas nur vortäuschen wollte? Dass es um ganz was anderes ging, und der Täter will uns in die Irre führen?“, versuchte er deswegen sein Glück. Die Frau Doktor zuckte mit den Schultern. „Sein kann alles. Aber ich brauche eine Arbeitshypothese. Also weiter. Zweite Frage: Hat der Mord etwas zu tun mit dem Mord an Herrn Breitwieser? Beide etwa im gleichen Alter, beide Morde, zumindest dem Augenschein nach, von heftigen Emotionen seitens des Mörders begleitet.“ Und beide, so dachte Gasperlmaier bei sich, hatten noch ein wesentliches Merkmal gemeinsam, nämlich die heruntergezogene Hose. Das aber wusste einstweilen nur er selbst, denn davon hatte er auch dem Friedrich, der ihn ja allein zu der Leiche im engen Klosett geschickt hatte, noch nichts erzählt. Gasperlmaier fragte sich, wie lange er mit dem Beweis, dass die beiden Morde zusammenhängen mussten, noch hinter dem Berg halten konnte. Keinesfalls wollte er damit vor dem Besuch bei der Mutter herausrücken, das hätte zu viel des Ärgers auf einmal bedeutet. Alles zu seiner Zeit, dachte er bei sich.
„Aber trotz dieser Gemeinsamkeiten können wir einstweilen nicht von einem Zusammenhang zwischen den beiden Morden ausgehen. Dass der Herr Doktor Schwaiger irgendetwas mit den Immobiliengeschäften des Herrn Breitwieser, mit dem Herrn Holzig oder dem Avalon-Kreis zu tun hat, das wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation.“ Nicht, so dachte Gasperlmaier, wenn sie von der heruntergezogenen Hose erfuhr. Ihm wurde trotz der mäßigen Temperatur im Wageninneren heiß. Er entschloss sich zu einem Entlastungsangriff, der die Frau Doktor auf andere Gedanken bringen würde.
„Was war denn eigentlich bei der Besprechung mit dem Bürgermeister gestern?“, fragte er deswegen. Die Frau Doktor starrte durch die Windschutzscheibe, auf der sich gerade ein paar Regentropfen niederließen. „Nicht viel. Der Bürgermeister hat bestätigt, dass der Herr Breitwieser für den Herrn Holzig mehrmals interveniert hat. Er wollte am Ostufer des Sees Bauland gewidmet bekommen. Es hat Angebote gegeben, der Gemeinde dies oder jenes zu finanzieren, von Fahrzeugen für den Bauhof bis zu neuen Pulten für die Volksschule, aber die Mehrheit im Gemeinderat hat offenbar das Schlimmste verhindert, obwohl einmal die eine, einmal eine andere Partei durchaus dafür gewesen sein soll, den großzügigen Angeboten der Investoren nahe zu treten. Und es sollen sogar Damen und Herren aus Ministerien und von den Bundesforsten angereist sein, um die Gemeinde in dieser Causa unter Druck zu setzen.“ Der Friedrich schnaufte und grinste. „Aber Sie wissen doch, Frau Doktor, wie wir Altausseer sind: Wenn uns jemand von Graz oder von Wien blöd kommt, da werden wir stur, da zählen Parteigrenzen nicht mehr. Da geht es um unser Land.“ Die Frau Doktor nickte. „So ähnlich hat das der Bürgermeister auch dargestellt. Aber die Aktivitäten der Herren Holzig und Breitwieser dürften noch nicht beendet gewesen sein, sie wollten sich nach der Abfuhr vom Ostufer nach neuen Grundstücken umsehen. Es soll sogar der Wirt der Jausenstation am Kahlseneck unter Druck gesetzt worden sein. Da wäre dann der beste Badeplatz am See plötzlich ein Privatgrundstück geworden.“ Diese Vorstellung versetzte Gasperlmaier einen Stich ins Herz. Der Badeplatz war für ihn ein Heiligtum. Dort hatte er schwimmen gelernt, dort hatten sie sich als Buben fast den ganzen Sommer lang herumgetrieben, dort hatte er als Jugendlicher die Mädchen beobachtet, die sonst immer unter ihren Kleidern verborgen waren, und dort hatte er schließlich seinen ersten Kuss bekommen. Ganz unvorstellbar, dass irgendwelche Heuschrecken mit
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