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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Eindruck der Verlassenheit, den die Straße ausübte. Der Verkehr in diesem Stadtviertel nahm langsam ab. Die Innenstadt selbst, die nach Osten zu in Sichtweite lag, prunkte mit einer beleuchteten Skyline von zwanzig- bis dreißigstöckigen Bürogebäuden.
    Wir fuhren zu Helens Haus zurück und kreisten einmal rund um den Block, um nach Spuren von Gilbert Ausschau zu halten. Niemand von uns wußte, was für einen Wagen er fuhr, doch wir sahen uns aufmerksam um, da wir dachten, ihn vielleicht entdecken zu können, wie er im Dunkeln lauerte oder in einem geparkten Auto saß. Ray ließ seinen Wagen auf dem Schotterweg stehen, der hinter dem Haus seiner Mutter verlief. Wir gingen durch den Garten bis zum unbeleuchteten Hintereingang. Niemand von uns hatte daran gedacht, Licht brennen zu lassen, und so lag das Haus in völliger Dunkelheit. Ray ging zuerst hinein, während Helen und ich uns auf der Hintertreppe neben der Waschküche aneinanderdrängten. Helen stützte sich immer noch auf ihren Baseballschläger, den sie offenbar mittlerweile als ständiges Requisit bei sich trug. Über die Nachbargärten hinweg konnte ich die aufragenden Formen der winterlich kahlen Bäume vor dem vom Großstadtlicht überfluteten Novemberhimmel sehen. Zweige knarrten im Wind. Bis Ray endlich Lampen und Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte und uns hereinließ, fröstelte ich. Wir warteten in der Küche, während er die vorderen Räume und das ungenutzte Schlafzimmer im Obergeschoß kontrollierte.
    Wir waren weniger als eine Stunde weg gewesen, aber das Haus schien bereits vor Vernachlässigung muffig zu riechen. Die Glühbirne in der Küche gab ein harsches, unbarmherziges Licht von sich. Der Pappeinsatz im Küchenfenster wies an einer Ecke eine Lücke auf. Helen werkelte im gesamten Raum herum, zwischen Speisekammer und Kühlschrank hin und her, und holte Dinge für ein improvisiertes Abendessen hervor. Sie bewegte sich sicher, doch ich konnte sehen, daß sie die Schritte abzählte. Ray und ich halfen ihr und sagten wenig oder nichts, da wir alle unbewußt darauf warteten, daß das Telefon klingelte. Helen besaß keinen Anrufbeantworter, und so war es zwecklos sich zu fragen, ob Henry oder Gilbert während unserer Anwesenheit angerufen hatten.
    Wir setzten uns zu einem Abendessen aus Rührei mit Speck, in Speckfett gebratenen Kartoffeln, Resten von gebratenen Äpfeln und Zwiebeln und selbstgebackenen Brötchen mit selbstgemachter Erdbeermarmelade. Jammerschade, daß ihr keine Methode eingefallen war, wie sie die Brötchen ebenfalls braten konnte, anstatt sie zu backen. Trotz der Überdosis Cholesterin war alles, was wir aßen, hervorragend. Das ist es also, was Großmütter tun, dachte ich. Mittlerweile hatte ich jegliche Hoffnung darauf aufgegeben, noch am selben Tag nach Hause zu kommen. Schließlich war erst Montag. Mir blieben noch der ganze Dienstag und der ganze Mittwoch, um ein Flugzeug zu ergattern. Langsam bekam ich es satt, mich deswegen aufzuregen. Warum sollte ich mir ins Hemd machen? Ich würde hier tun, was ich konnte, und dann den Heimweg antreten.
    Nach dem Abendessen machte Helen es sich in ihrem Schlafzimmer vor dem Fernseher gemütlich. Ray kümmerte sich um den Abwasch, während ich den Küchentisch abräumte. Ich war gerade dabei, ihn abzuwischen und stellte die Zuckerdose sowie die Salz- und Pfefferstreuer beiseite, als mir die Beileidskarte ins Auge stach, die Johnny Lee geschickt hatte. Helen hatte sie offenbar auf dem Tisch liegen lassen, beschwert von der Zuckerdose. Ich las den Text ein weiteres Mal und hielt die Karte schräg gegen das Licht.
    »Was ist das?« wollte Ray wissen.
    »Die Karte von Johnny. Ich habe gerade noch einmal den Text darin gelesen. Der Vers sieht aus, als wäre er mit der Schreibmaschine geschrieben worden.«
    »Lesen Sie ihn mir noch einmal vor.«
    »>Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. Matthäus 16, 19. In der Stunde deines Verlusts in Gedanken bei dir.< Ich glaube, das ist eine dieser leeren Karten, wo man den Text selbst hineinschreibt.«
    »Klingt einleuchtend. Wenn der Vers als geheime Botschaft gedacht war, wie hätte er dann eine Karte mit genau diesem Zitat finden sollen? Er mußte praktisch eine Karte ohne Text kaufen und sie selbst beschriften.«
    Ich starrte auf den Bibelvers. »Vielleicht steht das M550 für Matthäus,

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