Letzte Ehre
im Verzeichnis suchen und die Daten ablesen, die ich brauche, um den
Schlüssel nachzumachen, wenn Sie ein Duplikat wollen. Aber auf dem Duplikat werden die Zahlen nicht stehen. Das Duplikat ist nicht beschriftet.«
»Okay«, sagte ich und zog das Wort vorsichtig in die Länge. Mir war nicht klar, worauf er damit hinauswollte.
»Okay. Also müssen die Zahlen, die Sie gesehen haben, eingraviert worden sein, nachdem der Schlüssel gemacht worden ist.«
Ich wies auf den Notizblock. »Sie wollen also sagen, daß jemand diese Zahlen auf den Schlüssel gravieren ließ«, sagte ich, indem ich ihn wiederholte.
»Genau«, sagte er.
»Aber warum sollte das jemand tun?« fragte ich.
»Lady, Sie sind zu mir gekommen. Nicht ich zu Ihnen«, sagte er. Als er lächelte, konnte ich die Verfärbungen an seinen Zähnen sehen, die ums Zahnfleisch herum dunkel waren. »Diese Zahlen sind im Zusammenhang mit einem Master-Vorhängeschloß unsinnig.«
»Könnten es Kennziffern eines anderen Schlüsselherstellers sein?«
»Möglich.«
»Wenn wir also herausfänden, welcher Hersteller es ist, dann könnten Sie mir doch den Schlüssel nachmachen?«
»Natürlich«, sagte er. »Das Problem ist nur, daß es etwa fünfzig Hersteller gibt. Sie müßten für jede Firma zwei, drei Handbücher durchgehen, und viele davon habe ich nicht auf Lager. Eingravierte Zahlen oder Buchstaben könnten den Schlüssel auch mit einem Gebäude oder einer Tür in Verbindung bringen, aber das läßt sich anhand dessen, was Sie mir erzählen, nicht feststellen.«
»Haben Sie je von einem Lawless-Schloß gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Gibt’s nicht.«
»Was macht Sie so sicher?« sagte ich, erbost von seiner besserwisserischen Art.
»Mein Vater war Besitzer dieser Firma und davor sein Vater. Wir sind seit über fünfundsiebzig Jahren im Geschäft. Wenn es eine solche Firma gäbe, hätte ich den Namen schon einmal gehört. Es könnte etwas Ausländisches sein.«
Ich verzog das Gesicht, da ich wußte, daß ich das nie herausfinden würde. »Besteht eventuell die Möglichkeit, daß es in den vierziger Jahren eine Firma Lawless gab, die heute nicht mehr existiert?«
»Nee.«
Ray legte mir eine Hand auf den Arm. »Gehen wir. Es ist schon gut. Wir werden die Sache mit Hilfe der Ausschlußmethode lösen.«
»Warten Sie mal«, sagte ich.
»Nichts da. Sie ziehen ein Gesicht, als würden Sie den Knaben gleich beißen.« Er drehte sich zu seiner Mutter herum. »He, Ma, wir gehen jetzt.« Er half ihr auf die Beine und nahm mit seiner Rechten ihren Arm, während er mit der Linken meinen packte. Der Druck, den er ausübte, verdeutlichte seine Absichten. Wir würden nicht hierbleiben und mit einem Mann streiten, der mehr wußte als wir.
In mir stieg die Enttäuschung auf. »Es muß einen Zusammenhang geben. Ich weiß, daß ich recht habe.«
»Grübeln Sie nicht übers Rechthaben nach. Grübeln wir lieber darüber nach, wie wir uns Gilbert vom Hals schaffen«, meinte er. Dann sagte er zu Reidel: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er machte die Tür auf und bugsierte uns hinaus. »Außerdem brauchen wir den Schlüssel nicht. Gilbert hat ja einen.«
»Tja, er wird ihn uns nicht zurückgeben.«
»Vielleicht doch. Wenn wir die Schlösser finden, wäre er womöglich zur Zusammenarbeit bereit. Es läge in seinem ureigensten Interesse.«
»Aber wozu sind die Zahlen da? Ich meine, M550 muß irgendein Code sein, oder nicht? Wenn nicht für einen Schlüssel, dann für etwas anderes.«
»Lassen Sie das Grübeln«, sagte er.
»Ich grüble aber. Gilbert wird Antworten hören wollen. Das haben Sie selbst gesagt.«
Draußen auf der Straße war es erstaunlich dunkel. Der Spätnachmittagswind peitschte vom Ohio herüber, der meines Wissens nur drei oder vier Häuserblocks weit entfernt lag. Ein paar vereinzelte Schneeflocken schwebten vorüber. Die Straßenlampen waren angegangen. Die meisten Geschäfte auf der Main Street schlossen gerade, und ein Gebäude nach dem anderen wies eine dunkle Front auf. Die Häuser bestanden in der Mehrzahl aus Backstein, waren fünf oder sechs Stockwerke hoch, und ihre Verzierungen ließen auf eine frühe Entstehungszeit schließen. Einige Geschäfte im Erdgeschoß verfügten über metallene Sicherheitsläden, die nun vor den Eingangstüren mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Hier und da konnte man tief im Inneren noch einen trüben Lichtschein erkennen, doch im großen und ganzen verstärkte eine eisige Finsternis den umfassenden
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