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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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dem Bett nieder, während er wieder nach unten polterte. Ich konnte mich nicht aufrecht hinsetzen, weil die Dachschräge über dem Bett so steil war. Es war bitterkalt, und der Raum roch nach Ruß. Zur Isolierung hatte jemand lagenweise Zeitungspapier zwischen Matratze und Sprungfedern geschoben, und ich konnte es bei jeder meiner Bewegungen knistern hören. Ich hob eine Ecke der Matratze an und spähte kurz nach dem Datum: 5. August 1962.
    Ich schlief in meinen Kleidern und wickelte mich in so viele Deckenschichten wie möglich. Indem ich mich zu fötaler Position zusammenrollte, bewahrte ich mir die Reste meiner Körperwärme. Dann schaltete ich die Lampe aus, obwohl ich nur ungern auf die dürftige Wärme verzichtete, die sie abgab. Das Kissen war flach und fühlte sich leicht klamm an. Eine Zeitlang nahm ich noch Licht wahr, das die Treppe heraufschien. Ich hörte Geräusche — wie Ray auf und ab ging und ein Stuhl über dem Boden scharrte oder ein gelegentliches Lachen aus dem Fernseher. Ich weiß nicht, wie es mir gelungen ist, unter diesen Umständen einzuschlafen, aber ich schaffte es. Einmal wachte ich auf und machte das Licht an, um auf meine Uhr nach der Zeit zu sehen: Zwei Uhr morgens, und die Lichter im Erdgeschoß brannten immer noch. Ich konnte den Fernseher nicht mehr hören, doch die nächtliche Ruhe wurde von gelegentlichen, unidentifizierbaren Geräuschen durchbrochen. Einige Zeit später wachte ich erneut auf, und nun war das Haus dunkel und vollständig still. Meine Blase machte sich massiv bemerkbar, aber es gab nichts anderes für sie als geistige Disziplin.
    Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist, wenn man in einem fremden Haus schläft: zu frieren, ohne Zugang zu weiteren Decken zu haben, oder pinkeln zu müssen, ohne Zugang zu den sanitären Einrichtungen zu haben. Vermutlich hätte ich in beiden Missionen auf Zehenspitzen nach unten schleichen können, aber ich hatte Angst, daß Helen mich für einen Einbrecher halten und Ray denken würde, ich wolle ihn anmachen und zu ihm ins Bett kriechen.
    Bei Tagesanbruch erwachte ich wieder, lag da und fühlte mich elend. Ich schloß eine Weile lang die Augen. Sowie ich hörte, daß sich jemand regte, rollte ich mich aus dem Bett und eilte schnurstracks auf die Treppe zu. Sowohl Ray als auch seine Mutter waren auf den Beinen. Ich machte einen Umweg übers Badezimmer, wo ich mir unter anderem die Zähne putzte. Als ich in die Küche kam, las Ray gerade die Morgenzeitung. Er war noch nicht dazu gekommen, sich zu rasieren, und sein Kinn war voller stachliger, weißer Stoppeln und fühlte sich vermutlich so rauh an wie Asphalt. Ich war derart an seine zahlreichen Gesichtsverletzungen gewöhnt, daß ich sie kaum wahrnahm. Er hatte sein gewohntes weißes T-Shirt mit einem Arbeitshemd aus Jeansstoff überdeckt, das er über der Hose trug. Trotz seines Alters war er gut in Form, wobei die Konturen seines Oberkörpers wahrscheinlich stundenlangem Gewichtheben im Gefängnis zu verdanken waren.
    »Haben wir von Gilbert gehört?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Ich setzte mich an den Küchentisch, den Helen irgendwann in der Nacht zuvor gedeckt hatte. Ray reichte mir einen Teil des Courier-]ournal. Noch ein Tag zusammen und wir hätten unsere Rituale perfekt eingeübt, wie ein altes Ehepaar, das bei der Mutter des Mannes lebt. Helen humpelte unterdessen in der Küche herum und benutzte den Baseballschläger als Stock.
    »Macht Ihnen Ihr Fuß Probleme?« fragte ich.
    »Meine Hüfte. Ich habe einen Bluterguß von hier bis da«, sagte sie zufrieden.
    »Lassen Sie’s mich wissen, wenn ich etwas helfen kann.«
    Kurz darauf lief der Kaffee durch, und Helen machte sich daran, Würstchen zu braten. Diesmal übertraf sie sich selbst und zauberte für jeden von uns ein Gericht, das sie einäugige Buben nannte und bei dem jeweils ein Ei in einem Loch gebraten wird, das zuvor in eine Scheibe getoastetes Brot geschnitten wurde. Ray kippte Ketchup auf seines, aber das traute ich mich nicht.
    Nach dem Frühstück setzte ich mich ans Telefon und rief bei den fünf Friedhöfen an, die wir auf unsere Liste gesetzt hatten. Jedesmal behauptete ich, ich sei Amateur-Ahnenforscherin und der Geschichte meiner Familie in dieser Gegend auf der Spur. Nicht daß das irgend jemanden interessiert hätte. Es waren allesamt nicht konfessionsgebundene Einrichtungen, in denen noch Grabstätten zum Verkauf standen. Beim vierten Anruf ging die Frau in der Geschäftsstelle ihre Unterlagen durch

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