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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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nahm Helen mit sich ins Büro. Lauras Gesicht war nach wie vor so unübersehbar verletzt, daß sie Aufmerksamkeit erregt hätte, die er nicht wollte. Sein eigenes Gesicht war immer noch mit winzigen Schnittwunden übersät, aber niemand würde wagen, zu fragen, was passiert war.
    Während die beiden verschwunden waren, fing Laura im Rückspiegel Rays Blick auf. »Was ist mit ihr?« fragte sie, womit sie mich meinte.
    »Was soll mit ihr sein?« sagte Ray verärgert.
    »Gilbert hat Angst davor, daß Grammy die Bullen ruft. Was macht dich so sicher, daß sie es nicht tun wird?«
    Ich drehte mich auf dem Sitz herum und sah ihr ins Gesicht. »Ich rufe niemanden an. Ich versuche lediglich, nach Hause zu kommen.«
    Laura ignorierte mich. »Glaubst du etwa, sie wird danebensitzen und uns zusehen, wie wir mit dem Geld davonspazieren?«
    »Wir haben es ja noch nicht einmal gefunden«, meinte Ray.
    »Aber wenn wir es finden, was ist dann?«
    Rays Miene nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »Mein Gott, Laura. Was willst du denn von mir?«
    »Sie wird Arger machen.«
    »Mach’ ich nicht!«
    Laura wandte den Blick von mir ab und sah mit verkniffenem Mund aus dem Fenster. Gilbert und Helen kamen zum Wagen zurück. Er bugsierte sie ohne Umschweife wieder auf den Rücksitz und stieg dann auf seiner Seite ein. Helen stieß leise eine bissige Bemerkung hervor und Ray sagte: »Ma, sei vorsichtig.« Sie griff nach vorn und berührte voller Zuneigung seine Schulter.
    Gilbert knallte die Autotür zu und reichte mir die Broschüre, die er mitgebracht hatte. Die Frau im Büro hatte uns ein Heftchen überlassen, in dem Satzung und Geschichte des Friedhofs erläutert waren. Das Druckwerk ließ sich zu einem Plan der Anlage auffalten, auf dem interessante Punkte mit einem X gekennzeichnet waren. Äußerem hatte sie ein zusammengefaltetes Blatt beigelegt, auf dem eine detaillierte Karte der Grabstätten in dem Abschnitt, den wir aufsuchen wollten, abgedruckt war. Das Pelissaro-Grabmal hatte sie rot umringelt.
    Ich sah nach hinten zu Gilbert. »Sie sollten wissen, daß das hier eventuell zu nichts führt«, sagte ich.
    »Ich hoffe, Sie haben für diesen Fall noch einen Reserveplan.«
    Mein Reserveplan war, ganz schnell davonzurennen.
    Ray ließ den Motor laufen. Ich wies ihm den Weg, den die Frau mit Kugelschreiber markiert hatte. Der Friedhof war als Reihe überlappender Kreise angelegt, die aus der Luft wie das Wedding-Ring-Muster auf einer Patchworkdecke ausgesehen hätten. Sträßchen umringten jeden Abschnitt und bogen ineinander ein wie eine Folge von Kreisverkehren. Wir nahmen die erste gewundene Straße nach links bis zum Three-Maidens-Brunnen. An der Weggabelung fuhren wir wiederum nach links weiter, oben am See vorbei, dann nach rechts und um die Kurve in den alten Teil der Anlage. Der Friedhof verdankte seinen Namen den zwölf Brunnen, die unerwartet aufragten, üppige Wasserspiele, die gen Himmel schossen. In Kalifornien wäre eine derartige Wasserverschwendung Anlaß für eine richterliche Vorladung, insbesondere in den Dürrejahren, die den regenreichen zahlenmäßig klar überlegen waren.
    Wir kamen an Soldier’s Field vorüber, wo die Gefallenen begraben lagen, deren gleichförmige weiße Steine ebenso ordentlich in Reih und Glied standen wie Bäume in einem frisch gepflanzten Obstgarten. Die Perspektive verlagerte sich mit uns, und der Fluchtpunkt glitt über die Reihen weißer Kreuze wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms. In den älteren Sektionen des Friedhofs, in die wir gerade fuhren, standen eindrucksvolle Mausoleen: Bauwerke aus Kalkstein und Granit mit abgeschrägten Friesen und ionischen Säulen. Den größeren Sarkophagen waren zur Zierde knieende Kinder mit gebeugten Köpfen beiseite gestellt, steinerne Lämmer, Urnen, steinerne Portieren und korinthische Säulen. Da waren Pyramiden, Türmchen und schlanke Frauen in nachdenklichen Posen, Bronzehunde, Bogen, Pfeiler, gemeißelte Büsten streng dreinblickender Herren und kunstvoll gearbeitete Vasen und zwischen alledem eingesetzte Granittafeln und schlichte Grabsteine von bescheideneren Ausmaßen. Wir passierten ein Grab nach dem anderen, und die Reihen erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Die Grabsteine spiegelten so viele Verwandtschaftsbeziehungen wider, die Enden so vieler Geschichten. Sogar die Luft wirkte dunkel, und der Boden war von Kummer getränkt. Jeder Stein schien zu sagen, das ist ein Leben, das wichtig war, dies markiert den Heimgang eines lieben

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