Letzte Ehre
Menschen, den wir geliebt haben und den wir schmerzlich und für immer vermissen werden. Sogar die Trauernden waren mittlerweile tot, und die Trauernden, die sie betrauert hatten.
Das Familiengrab der Pelissaros lag in einer Sackgasse. Wir parkten und stiegen aus. Gilbert warf seinen Stetson auf den Rücksitz, und wir marschierten alle fünf bunt durcheinander darauf zu. Ich hielt mir die Fotografie vor die Augen und staunte über die Szenerie, die sich uns bot und die noch genau so aussah wie vor vierzig Jahren. Das Pelissaro-Grabmal, ein weißer Marmor-Obelisk, überragte die umliegenden Gräber. Die Mehrzahl der Bäume auf dem Foto standen noch, und viele von ihnen waren im Lauf der Zeit gewaltig gewachsen. Wie auf dem Bild trugen die Äste auch jetzt kein Laub, doch lag diesmal kein Schnee, und das Gras ruhte, fleckig braun, vermischt mit mattem Grün. Ich entdeckte dasselbe von einem eisernen Zaun umfriedete Grüppchen Grabsteine und das Stück Steinmauer rechts von uns.
Gilbert wurde bereits ungeduldig. »Was machen wir jetzt?«
Ray und ich wechselten einen kurzen Blick. Bislang hatte Gilbert seinen Teil der Vereinbarung eingehalten. Er war mit Laura vorbeigekommen, die nicht nur am Leben und unversehrt war, sondern sogar so aussah, als wäre sie in der vergangenen Nacht nicht zusammengeschlagen worden. Ray und ich standen da, vertrödelten Zeit und wußten, daß wir eigentlich keine Chance hatten, unseren Teil ebenfalls einzuhalten. Wir hatten versucht, auf die Grenzen unserer Erkenntnisse hinzuweisen, aber Gilbert hatte keinen Sinn für Zweideutigkeiten. Helen wartete geduldig in ihren Mantel gewickelt und sah aufmerksam einen hohen Grabstein an, den sie vermutlich mit einem von uns verwechselte.
Gilbert sagte: »Ich habe nicht vor, irgendwelche Grabsteine auszugraben. Und schon gar nicht den hier. Der wiegt wahrscheinlich ein paar Tonnen.«
»Laß mir ‘ne Minute«, bat Ray. Er musterte die Szenerie vor uns und konzentrierte seinen Blick auf Grabsteine, landschaftliche Merkmale, Täler, Bäume und den Ring von Hügeln dahinter. Ich wußte, was er machte, da ich das gleiche tat und nach dem nächsten Zug in dem speziellen Brettspiel suchte, das wir spielten. Ich hatte fast erwartet, in der Lerne einen Wasserturm aufragen zu sehen, auf den irgendein maßgebliches Wort aufgemalt war. Ich hatte gehofft, einen alten Gärtnerschuppen oder einen Wegweiser vorzufinden, irgend etwas, das uns sagte, wohin wir uns von hier aus wenden sollten. Die Grabstätte der Pelissaros mußte von Belang sein, warum hätte er sich sonst die Mühe machen sollen, das Loto zu schicken? Die Schlüssel konnten wichtig sein oder nicht, aber das Grabmal wies auf irgend etwas hin, wenn wir nur herausfinden könnten, was.
Ich sah, wie Ray kursorisch die Namen auf jedem Grabstein in Sichtweite überflog. Keiner von ihnen schien von Belang zu sein. Ich drehte mich um die eigene Achse und musterte die Sackgasse hinter uns, die von Mausoleen umstanden war. »Ich hab’s«, sagte ich. Ich legte Ray eine Hand auf den Arm und wies dort hin. Fünf Grabmale standen im Kreis, graue Bauwerke aus Kalkstein, die in den ansteigenden Hügel eingesenkt waren, der sich über und um die Sackgassen herum wie ein aufgestellter Hemdkragen fächerförmig ausbreitete. Jede der fünf Fassaden war anders. Eine ähnelte einer Miniaturkathedrale, eine andere einer verkleinerten Version des Parthenon. Zwei wirkten mit ihren Kolonnaden und den flachen Stufen, die zu einem einst eindrucksvollen, heute jedoch mit glattem Beton versiegelten Eingang hinaufführten, wie kleine Bankgebäude. Auf jedem von ihnen war der Familienname über der Tür in den Stein gemeißelt worden. Rexroth. Barton. Hartford. Williamson. Es war das fünfte Mausoleum, das meine Aufmerksamkeit erregte. Der Name über der Tür lautete Lawless.
Ray schnippte hektisch mit den Fingern. »Gib mir die Schlüssel«, sagte er zu Gilbert, der seiner Aufforderung widerspruchslos nachkam.
Wir eilten zur Straße hinunter, allesamt vom Anblick des Grabmals in Bann gezogen. Der Eingang wurde von einem Eisentor geschützt, dessen Schlüsselloch man sogar aus der Entfernung erkennen konnte. Durch die Gitterstäbe des Tores war eine Kette geschlungen worden, die sich um das Hauptschloß wand und mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Ich blickte auf das Blatt Papier hinab, das in allen Einzelheiten die Lage der Grabmale in diesem Bereich aufzeigte. Die Begräbnisstätte der Familie Lawless lag in Sektion
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