Letzte Ehre
M, Gruppe 550. Die Botschaft von Johnny Lee war abgesandt und empfangen worden. Ich konnte nicht fassen, daß wir es geschafft hatten, aber es war uns tatsächlich gelungen, sein Schreiben zu deuten.
Ray ging auf den Wagen zu, den wir in der Kurve direkt gegenüber dem Mausoleum geparkt hatten. Er öffnete den Kofferraum und holte einen Wagenheber heraus. »Schnappt euch Werkzeug«, sagte er. Erneut gehorchte Gilbert ohne zu murren und bewaffnete sich mit einer Schaufel. Laura griff sich einen Hammer und eine Spitzhacke, die Ray noch in letzter Minute in den Kofferraum geworfen hatte. Wir schritten alle fünf über die Straße, wobei Helen die Nachhut bildete und mit ihrem Baseballschläger aufs Pflaster klopfte. In unregelmäßiger Formation stiegen wir die Stufen hinauf und äugten durch die eisernen Stäbe des Tores. Drinnen befand sich ein gepflasterter Vorraum, der vielleicht drei Meter breit und anderthalb Meter tief war. An der hinteren Wand war Raum für sechzehn Grüften, in die einzelne Särge geschoben werden konnten, wobei die Grüften selbst in vier Reihen übereinander und vier Reihen nebeneinander angeordnet waren.
Wir hielten uns im Hintergrund und sahen zu, wie Ray den kleinen Schlüssel in das Master-Vorhängeschloß schob, das bei der ersten Umdrehung aufsprang. Die Kette, nun lose, fiel klirrend zu Boden. Der große Eisenschlüssel drehte sich mühsam im Schloß des Tores. Das Tor schwang mit einem Quietschen auf, das schrille, schabende Geräusch von Metall auf Metall. Wir gingen hinein. Die sechzehn Begräbnisplätze schienen allesamt gefüllt zu sein. Zwölf waren mit Steinen versehen, in die die Namen der Verstorbenen, die Geburts- und Todesdaten und manchmal ein Gedichtvers eingemeißelt waren. Sämtliche Geburts- und Todesdaten datierten vor der Jahrhundertwende. Die vier übrigen Grüften waren mit glattem Beton zugemauert und wiesen keinerlei Daten auf.
Ray schien sich zunächst nur widerwillig an die Arbeit machen zu wollen. Schließlich war das hier ein Familiengrab. »Ich schätze, wir sollten lieber loslegen«, sagte er. Zögerlich ging er mit dem Wagenheber auf das oberste Betonquadrat los. Nach dem ersten Schlag begann er intensiv auf die glatte Fläche einzuhacken und arbeitete konzentriert weiter. Gilbert nahm eine der Schaufeln und schritt neben Ray mit deren Blatt in ähnlicher Weise ans Werk. Die Geräusche erschienen mir relativ laut und hallten überall in der Grabstätte wider. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob jemand außerhalb des Bauwerks viel hätte hören können. Auf jeden Fall wäre es nicht leicht gewesen, die Quelle all des Gehämmers auszumachen. Der Beton bildete offenbar lediglich eine Verkleidung, da die Oberfläche zu zerbrechen begann und der rohen Gewalt nachgab. Nachdem es Ray erst einmal gelungen war, hindurchzukommen, hackte Gilbert auf das zerbröselnde Material ein und machte die Öffnung breiter.
Unterdessen hatte Laura sich hingekniet und hieb mit der Spitzhacke auf die Betonverkleidung an der unteren Gruft ein. Staub stieg auf und erfüllte die Luft mit einer bleichen, sandigen Wolke aus kleinen Partikeln. Die Gründlichkeit, mit der sie arbeiteten, hatte etwas Verstörendes an sich. All ihre Konflikte und zurückliegenden Zänkereien waren mit der Beschleunigung der Jagd abgelegt worden. Die Entdeckung stand kurz bevor, und die Gier hatte ihre Streitsucht verdrängt.
Helen und ich wichen nach hinten an die Wand zurück, um ihnen nicht im Weg zu stehen. Durch die Gitterstäbe des Tores, das zum Hügel hinausging, konnte ich sehen, wie der Wind an den Ästen der Bäume zerrte. Ich reckte den Hals und blickte besorgt nach oben. Der Himmel hatte sich völlig zugezogen, und über uns formierten sich dunkle Massen. Das Wetter hier war wechselhaft, wohingegen es in Kalifornien statisch und monoton wirkte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Situation ausgehen sollte, und schwankte zwischen Grauen und der vagen Hoffnung, daß am Ende alles gutgehen würde. Ray und Gilbert würden das Geld aufteilen, sich die Hände schütteln und ihrer Wege ziehen und mir die Freiheit gewähren, das nämliche zu tun. Laura würde Gilbert verlassen. Vielleicht würde sie eine Zeitlang bei ihrem Vater und ihrer Großmutter bleiben, bevor sich die drei wieder trennten. Ray würde vermutlich bei seiner Mutter bleiben, wenn sie an den Augen operiert wurde, es sei denn, er wurde vorher gefaßt und wieder ins Gefängnis gesteckt.
Ich sah auf die Uhr. Es war erst
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