Letzte Ehre
wäre, wenn die beiden jemals zu einem Wettpissen antraten.
Ray sagte: »Ich nehme an, du hast die Schlüssel bei dir.«
Gilbert zog sie aus der Tasche, zeigte sie kurz vor, wie sie gemeinsam an einem Ring hingen, und steckte sie dann wieder ein.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begann Ray einen Teil der Ausrüstung aufzusammeln, die er zuvor zusammengestellt hatte: das Seil, die beiden Schaufeln und den Bolzenschneider. »Jeder nimmt sich was, und dann gehen wir«, sagte er. »Wir können das ganze Zeug in den Kofferraum packen.«
Gilbert nahm sich den Handbohrer, ließ sich aber Zeit dabei, damit es nicht aussah, als würde er Anweisungen befolgen. »Noch etwas. Ich will die alte Dame dabeihaben.«
»Ich geh’ überhaupt nirgends mit Ihnen hin, Freundchen«, fauchte Helen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und stützte sich dickköpfig auf ihren Baseballschläger.
Ray hielt inne. »Was hat sie denn damit zu tun?«
»Wenn wir jemanden zurücklassen, woher soll ich dann wissen, daß derjenige nicht den Notruf anruft?« sagte Gilbert zu Ray und ignorierte die alte Frau.
Ray sagte: »Komm schon. Das würde sie nicht tun.«
»O doch, das würde ich«, widersprach sie unverzüglich.
Gilbert starrte Ray an. »Siehst du? Die alte Schachtel ist komplett verrückt. Entweder sie geht auch mit, oder die ganze Sache platzt.«
»Was redest du denn da? Das ist doch Schwachsinn. Willst du vielleicht die Kohle sausenlassen?«
Gilbert lächelte und hielt immer noch Lauras Hals umfaßt. Er schüttelte ihren Kopf hin und her. »Ich muß überhaupt nichts sausenlassen. Du wirst der Verlierer sein.«
Ray schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Herrgott. Hol deinen Mantel, Ma. Du kommst mit uns. Tut mir leid, daß ich das tun muß.«
Helens Blick wanderte unsicher von Gilbert zu Ray. »Ist schon in Ordnung, Sohn. Ich gehe mit, wenn du darauf bestehst.«
Da Gilbert keinem von uns traute, fuhren wir in einem Auto. Gilbert, Helen und Laura setzten sich zusammen auf den Rücksitz, wobei die alte Frau mit ihrer Enkelin Händchen hielt. Helen hatte nach wie vor ihren Baseballschläger dabei, was Gilbert nicht entging. Als sie seinen Blick spürte, schüttelte sie den Schläger in seine Richtung. »Mit dir bin ich noch nicht fertig, Mama«, murmelte Gilbert.
Ray fuhr, während ich vom Beifahrersitz aus den Weg wies und die Route auf der aufgeschlagenen Karte verfolgte. Er bog auf der Portland Avenue nach Osten ab, gelangte wieder auf die Market Street und von dort aus unter der Brücke durch auf die 71 in Richtung Norden. Es war ein windiger Tag und etwas wärmer als zuvor. Der Himmel zeigte sich als weite Fläche von intensivem Blau, an deren Horizont sich Wolken sammelten. Ich hoffte, daß Ray einen geringfügigen Verkehrsverstoß beging, damit wir von der Highway Patrol gestoppt würden, aber er hielt den Tachometer genau bei der erlaubten Geschwindigkeit und gab Handzeichen, die ich schon seit Jahren niemanden mehr hatte verwenden sehen.
Nach etwa einer Meile auf dem Watterson Expressway bog er auf den Gene Snyder Freeway ein und fuhr an der ersten Ausfahrt ab. Wir gelangten auf die 22, auf der wir eine Zeitlang blieben. Die Straße, die wir gewählt hatten, war vermutlich früher einmal ein selten benutzter Feldweg gewesen, viele Meilen weit draußen auf dem Fand. Ich stellte mir Kaufleute und Farmer aus diesem Landkreis vor, wie sie stundenlang mit ihren Planwagen fuhren, um das waldige Gelände zu erreichen, wo sie ihre Toten zur Ruhe betten konnten. Der Twelve Fountains Memorial Park lag mehrere Meilen jenseits der Grenze zum Landkreis Oldham County, war von Kalksteinmauern umgeben und erstreckte sich über Grund, der einmal Teil eines fünfhundert Morgen umfassenden Landstrichs aus Wäldern und verwildertem Unterholz gewesen war. Im Lauf der Jahre war die hügelige Landschaft gezähmt und zurechtgestutzt worden.
Der Eingang führte durch offenstehende eiserne Tore, flankiert von Pfosten aus unbehauenen Steinen, die viereinhalb Meter hoch gewesen sein müssen. Die Straße gabelte sich nach links und rechts und wand sich um ein Arrangement aus drei großen, steinernen Brunnen, die versetzt angeordnete Fontänen und Wasserschleier in die eisige Novemberluft sprühten. Ein diskretes Schild wies uns nach rechts, wo vor einem Hintergrund aus Zypressen und Trauerweiden ein kleines Steinhaus stand. Ray fuhr auf den gekiesten Parkplatz. Ich konnte erkennen, daß die Frau im Büro zu uns herausspähte.
Gilbert
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