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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Viertel nach zehn Uhr vormittags. Wenn ich es schaffte, einen Flug am frühen Nachmittag zu bekommen, könnte ich rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein. Ich hatte den größten Teil der vorhochzeitlichen Festivitäten verpaßt. Morgen abend, am Mittwoch, dem Abend vor der Hochzeit, wollten William und »die Jungs« zum Bowling gehen, während Nell, Klothilde und ich wahrscheinlich bei Rosie zu Abend essen würden. Sie hatte uns versichert, daß es nicht nötig wäre, die Feier zu proben. »Was gibt’s da schon zu proben? Wir werden nebeneinander stehen und wiederholen, was uns der Richter vorsagt.« Neil war nicht dazu gekommen, die letzten Änderungen an meinem Brautjungfernkleid vorzunehmen, aber wie viele könnten das schon sein?
    Das Hämmern innerhalb des Grabmals ging in einen gleichmäßigen Rhythmus über. Irgendwo weiter weg konnte ich hören, wie ein Friedhofsgärtner einen Laubkompressor in Betrieb nahm. Auf der Straße um uns herum fuhr kein einziges Auto. Ehe ich mich’s versah, schleppten Ray, Gilbert und Laura Leinensäcke aus dem Bauwerk heraus und die Stufen hinunter. Helen und ich folgten nach und blieben neben ihnen stehen, während Ray einen der Säcke auf den Kopf stellte und seinen Inhalt auf den Asphalt leerte. Ray sagte: »Der Mann ist ein Genie. Wer zum Teufel wäre darauf gekommen? Ich wünschte, er wäre hier. Ich wünschte, er hätte das hier sehen können. Seht euch das an. Mein Gott, ist das nicht herrlich?«
    Was auf die Erde gepoltert war, war eine wilde Mischung aus amerikanischen und ausländischen Banknoten, Schmuck, Tafelsilber, Aktienzertifikaten, Münzsilber, Geldscheinen der Konföderierten, Inhaberschuldverschreibungen, unbekannten juristischen Dokumenten, Münzen, Probeprägungen, Briefmarken und Gold- und Silberdollars. Der Hügel von Wertsachen reichte mir fast bis an die Knie, und die sechs anderen Leinensäcke waren ebenso vollgestopft wie dieser. Sogar Helen mit ihren schlechten Augen schien den enormen Umfang des Fundes wahrzunehmen. Ein Regentropfen fiel auf das Pflaster daneben, gefolgt von einem zweiten und dritten in weiten Abständen. Ray sah erstaunt nach oben und streckte eine Hand aus. »Laßt uns gehen«, sagte er.
    Laura füllte die Sachen wieder in den einen Sack, während Ray und Gilbert die anderen zum Kofferraum des Wagens zerrten und sie hineinhievten. Als der letzte Sack verstaut war, knallte Ray den Deckel zu. Wir wollten gerade alle ins Auto steigen, als mein Blick auf Gilbert fiel. Einen Moment lang dachte ich, er sei stehengeblieben, um sich das Hemd in die Hose zu stopfen, doch mir wurde rasch klar, daß er nach seiner Waffe griff. Ray sah mein Gesicht und warf einen Blick nach hinten zu Gilbert, der nun mit gespreizten Beinen und der Pistole in der Hand dastand. Laura packte Helens Arm, und die beiden blieben wie angewurzelt stehen. Ich sah, wie Laura sich hinabbeugte und ihrer Großmutter etwas ins Ohr flüsterte, sie davon unterrichtete, was vor sich ging, da die alte Frau ja nicht besonders gut sah.
    Gilbert betrachtete Ray amüsiert, als wären wir anderen gar nicht anwesend. »Es ist mir schrecklich unangenehm, dir das sagen zu müssen, Ray-Baby, aber dein Freund Johnny war ein knallharter Killer.«
    Ray starrte ihn an. »Tatsächlich?«
    »Er hat einen Killer für Darrell McDermid angeheuert und ihn abservieren lassen.«
    Ray runzelte die Stirn. »Ich dachte, Darrell sei bei einem Unfall umgekommen.«
    »Das war kein Unfall. Der Knabe ist um die Ecke gebracht worden. Johnny hat jemandem einen Haufen Kohle dafür gezahlt, daß Darrell ins Gras beißt.«
    »Weshalb? Weil er uns bei den Bullen verpfiffen hat?«
    »So hat es Johnny gesagt.«
    »Und wer hat ihn umgelegt?«
    »Ich. Der Junge war sowieso völlig außer sich wegen seines Bruders, also hab’ ich ihn von seinem Unglück erlöst.«
    Ray dachte kurz darüber nach und zuckte dann die Achseln. »Na und? Damit kann ich leben. Ist ihm recht geschehen. Der Arsch hat verdient, was er bekommen hat.«
    »Ja, wenn man davon absieht, daß Darrell unschuldig war. Darrell hat überhaupt nichts gemacht. Jemand hat Johnny einen riesengroßen Bären aufgebunden«, sagte Gilbert mit gespieltem Bedauern. »Ich war derjenige, der es den Bullen erzählt hat. Ich fasse es nicht, daß ihr da nie dahintergekommen seid.«
    »Du warst der Verräter?«
    »Leider ja«, sagte er. »Ich meine, machen wir uns doch nichts vor. Ich bin ein Scheißkerl. Ich bin nichts wert. Es ist wie bei dem Witz über den Typen,

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