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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Treppe heraufgekommen war, die Scheibe eingeschlagen, um den Rahmen herumgegriffen und den Riegel von innen aufgeschoben hatte. Ein Brecheisen oder anderes Werkzeug war nicht nötig gewesen.
    Chester mußte uns gehört haben, da er auf den Treppenabsatz herauskam. Er würdigte Babe, die an das hölzerne Geländer zurückwich und versuchte, so unauffällig wie möglich zu wirken, kaum eines Blickes. Ihr Schwiegervater hatte sie offensichtlich als Zielscheibe aufgegeben... zumindest für den Augenblick.
    Man sah auf den ersten Blick, woher Bucky sein Aussehen hatte. Sein Vater war groß und bullig und hatte gewelltes, blondes Haar, das lang genug war, um seine Schultern zu berühren. War es gefärbt? Ich versuchte, nicht hinzustarren, aber ich hätte schwören können, daß ich diesen Farbton in einem Clairol-Werbespot gesehen hatte. Er hatte kleine blaue Augen, blonde Wimpern und grau werdende Koteletten. Sein Gesicht war breit und sein Teint gerötet. Er trug seine Hemdschöße draußen, vermutlich um die fünfzehn Kilo zuviel zu kaschieren, die er mit sich herumschleppte. Er sah aus wie ein Typ, der in seiner Jugend in einer Rock-and-Roll-Band gespielt und selbst unerträglich amateurhafte Stücke geschrieben hatte. Der Ohrring überraschte mich: ein baumelndes, goldenes Kreuz. Außerdem konnte ich einen Blick auf eine Art religiöser Medaille werfen, die an einer goldenen Kette hing und unter dem T-Shirt mit dem V-Ausschnitt verschwand. Sein Brusthaar war grau. Ihn zu betrachten, war wie eine Vorschau auf Buckys zukünftige Sehenswürdigkeiten.
    Am besten war ich ganz direkt. Ich streckte die Hand aus. »Kinsey Millhone, Mr. Lee. Ich habe gehört, daß Sie aufgebracht sind.«
    Sein Händedruck war rein mechanisch. »Den >Mr.-Lee<-Scheiß können Sie sich sparen und mich Chester nennen. Wir können uns genausogut mit den Vornamen anreden, während ich Sie zur Sau mache. Daß ich aufgebracht bin, das können Sie glauben. Ich weiß zwar nicht, worum Bucky Sie gebeten hat, aber mit Sicherheit nicht um das hier.«
    Ich schluckte eine scharfe Bemerkung hinunter und blickte an ihm vorbei in die Wohnung. Sie war ein Schlachtfeld: umgekippte Kisten, kreuz und quer herumgeschleuderte Bücher, die Matratze zurückgeklappt, Bettlaken und Kissen auf dem Fußboden. Die Hälfte von Johnnys Kleidern war aus dem Schrank gezerrt und auf einen Haufen geworfen worden. Durch die Tür konnte ich sehen, daß in der Küche Schranktüren offenstanden und Töpfe und Pfannen über den Boden verstreut lagen. Das Durcheinander war zwar groß, doch schien nichts beschädigt oder zerstört zu sein. Es gab kein Anzeichen dafür, daß jemand dem Bettzeug mit einer Klinge zu Leibe gerückt wäre. Keine Schmierereien, keine aus Behältnissen ausgeleerten Lebensmittel oder aus den Wänden gerissene Rohre. Vandalen verzieren oft die Wände mit ihrer eigenen Fäkalfarbe, doch hier war nichts dergleichen geschehen. Es sah eher nach den Methoden aus, die Großstadtpolizisten bei einer Drogenrazzia anwenden. Aber was war der Zweck der Übung? Einen Moment überlegte ich, ob ich hereingelegt und als Zeugin zu einem gefälschten Tatort gerufen worden war, damit Bucky und sein Vater behaupten konnten, daß etwas Wertvolles gestohlen worden sei.
    Bucky kam aus der Küche und sah mich. Innerhalb eines Sekundenbruchteils tauschten wir merkwürdig schuldbewußte Blicke aus — wie Verschwörer. Einer kriminellen Handlung angeklagt zu werden, hat etwas an sich, das einen sich schuldig fühlen läßt, selbst wenn man unschuldig ist. Bucky wandte sich an seinen Vater. »Der Wassertank an der Toilette hat einen Riß. Kann auch schon vorher gewesen sein, bloß daß es mir nie aufgefallen ist.«
    Chester zeigte mit dem Finger auf ihn. »Den bezahlst du, wenn er ausgetauscht werden muß. Sie mit hineinzuziehen, war deine geniale Idee.« Er drehte sich zu mir um und wies mit dem Daumen über die Schulter Richtung Badezimmer. »Sie sollten mal reinschauen. Das Arzneischränkchen ist komplett aus der Wand gerissen worden...«
    Er schwadronierte weiter und erging sich in Einzelheiten, die ihn zu befriedigen schienen. Vermutlich genoß er es zu meckern und zählte seine Kümmernisse deshalb auf, um sein schlechtes Benehmen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Seine Gereiztheit war ansteckend, und ich merkte, wie ich in Wut geriet.
    Ich unterbrach seinen Monolog. »He, ich war das nicht, Chester. Sie können toben und brüllen, soviel Sie wollen, aber die Wohnung war

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