Letzte Ehre
hinaus. Ein schwarz-weißer Streifenwagen parkte am Straßenrand. Ich entdeckte das Telefon, das in einer Art kleiner Gebetsnische in der Diele stand. Ich zog das Telefonbuch hervor und wählte die offizielle Nummer der Polizei von Santa Teresa. Jemand vom Archiv nahm ab.
Ich sagte: »Oh, hallo. Können Sie mir sagen, ob Officer Wettig in dieser Schicht Dienst hat?«
»Moment bitte, ich sehe nach.« Sie klickte sich aus und ließ mich warten. Kurz darauf meldete sie sich wieder. »Er hat bis heute nachmittag um drei Uhr Dienst. Soll ich ihm etwas aus-richten?«
»Nein, danke, ich versuch’s später nochmal«, sagte ich und legte auf. Im nachhinein wurde ich rot und kam mir ein wenig einfältig vor. Natürlich gab es einen Officer Wettig. Was war denn in mich gefahren?
4
Nachdem ich Buckys Haus verlassen hatte, ging ich nach Hause und machte ein kurzes, aber erfrischendes Nickerchen, das — wie ich bereits damals fürchtete — einer der Höhepunkte meiner Ferien sein sollte. Drei Minuten vor fünf Uhr fuhr ich mir mit der Bürste durchs Haar und trottete die Wendeltreppe hinab.
Die niedrige Wolkendecke erzeugte die Stimmung einer verfrühten Dämmerung, und die Straßenlampen blinzelten herab, als ich mein Apartment abschloß. Trotz des spätnachmittäglichen Temperatursturzes stand Henrys Hintertür offen. Heiseres Lachen drang durch die Fliegentür, dazu gesellte sich ein verlockendes Sammelsurium von Küchendüften. Henry klimperte im Wohnzimmer auf dem Klavier herum. Ich überquerte den mit Platten ausgelegten Hof und klopfte an die Fliegentür. Die Vorbereitungen für Lewis’ Geburtstagsessen waren bereits im Gange. Ich hatte ihm zum Geburtstag ein massiv silbernes Rasierset mit Becher und Pinsel gekauft, das ich in einem Antiquitätengeschäft entdeckt hatte. Es war eher etwas für Liebhaber als echt antik, doch ich dachte, daß es etwas wäre, das er entweder benutzen oder bewundern konnte.
Lewis polierte gerade das Silberbesteck, ließ mich aber ein. Er hatte seine Anzugjacke ausgezogen, trug jedoch nach wie vor seine Smokinghose, eine Weste und ein frisches weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Charlie hatte sich eine von Henrys Schürzen umgebunden und war gerade dabei, Lewis’ Geburtstagskuchen den letzten Schliff zu verleihen. Henry hatte mir erzählt, daß Charlie langsam ein wenig unsicher wurde, weil sich sein Gehör so verschlechtert hatte. Vor etwa fünf Jahren hatte er einen Hörtest gemacht. Damals hatte der Audiologe ihm zu einem Hörgerät geraten, das Charlie schließlich angepaßt wurde. Er hatte es etwa eine Woche getragen und dann in eine Schublade gelegt. Er behauptete, das Gerät gäbe ihm das Gefühl, als hätte er in jedem Ohr einen Daumen stecken. Jedesmal, wenn er die Toilettenspülung betätigte, klänge es wie die Niagarafälle. Wenn er sich die Haare kämmte, hörte es sich an, als marschierte jemand einen Kiesweg entlang. Er wollte nicht einsehen, warum die anderen nicht so laut reden konnten, daß er sie verstand. Die meiste Zeit hielt er sich eine gewölbte Hand hinters Ohr. Er sagte ziemlich oft: »Was?« Die anderen ignorierten ihn gern.
Der Kuchen, an dem er sich zu schaffen machte, war auf einer Seite zusammengefallen, und er bemühte sich, ihn mit zweieinhalb Zentimetern weißer Glasur wieder aufzurichten. Er sah zu mir auf. »Bei uns darf das Geburtstagskind seinen Kuchen nicht selbst backen«, sagte er. »Nell macht die Schichten, außer natürlich an ihrem eigenen Geburtstag, und ich mache die gekochte Glasur, die sie nie richtig hinkriegt.«
»Es riecht alles wunderbar.« Ich hob den Deckel einer geschlossenen Kasserolle an. Darin befand sich eine klumpige, weiße Masse mit etwas, das wie Paprikaschoten, harte Eier und Stückchen von Essiggemüse aussah. »Was ist denn das?«
»Wie bitte?«
Lewis meldete sich zu Wort. »Das sollte einmal Kartoffelsalat werden, aber Charlie hat den Kurzzeitmesser eingestellt und ihn dann nicht läuten hören, und so sind die Kartoffeln zu Brei verkocht. Wir haben beschlossen, sämtliche üblichen Zutaten hinzuzugeben und es >Charlie Pitts’ berühmten Kartoffelbreisalat< zu taufen. Dazu gibt es Brathühnchen, Bohnen in Tomatensoße, Krautsalat, Teufelseier und in Scheiben geschnittene Gurken und Tomaten mit Essig. Ich habe die letzten sechsundachtzig Jahre, seit ich zwei war, an jedem Geburtstag genau dieses Essen bekommen«, erklärte er. »Jeder von uns hat seine Spezialität, und in unserer Familie herrscht die
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