Letzte Ehre
Vorschrift, daß die Geschwister kochen. Manche können es besser als andere, wie man sieht«, fügte er mit einem Seitenblick auf Charlie hinzu.
Ich wandte mich an Charlie. »Was essen Sie denn an Ihrem Geburtstag?«
»Was sagen Sie?«
Ich wiederholte die Frage mit lauterer Stimme.
»Oh. Hot Dogs, Chilisoße, Dillgurken und Kartoffelchips.
Mutter hat sich immer aufgeregt, weil ich mich gegen ein richtiges Gemüse gesperrt habe, aber ich habe auf Kartoffelchips bestanden, und schließlich gab sie nach. Anstelle eines Geburtstagskuchens wünsche ich mir immer ein Blech mit Henrys Schoko-Nuß-Plätzchen, die er meistens quer durchs ganze Land schicken muß.«
»Was ist mit Henry?«
Charlie hielt sich eine Hand hinters Ohr, und Lewis antwortete an seiner Statt. »Bauernschinken, Brötchen mit Kaffeesoße, Kohlgemüse, Langbohnen und Maisgrütze mit Käse. Nell wiederum besteht auf Hackbraten mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen und Apfelkuchen mit einem dicken Keil Cheddarkäse obendrauf. Ändert sich nie.«
William kam gerade noch rechtzeitig in die Küche, um Lewis’ letzte Bemerkung aufzuschnappen. »Was ändert sich nie?«
»Ich habe Kinsey gerade von unseren Geburtstagsmenüs erzählt.«
Ich lächelte William zu. »Was ist denn Ihres?«
Lewis schaltete sich erneut ein. »William wünscht sich immer einen New-England-Eintopf mit braunem Corned beef, aber wir überstimmen ihn.«
»Also mir schmeckt das«, behauptete er ungerührt.
»Ach, tut es nicht. Niemandem kann ein New-England-Eintopf schmecken. Das sagst du nur, weil du weißt, daß wir anderen das dann auch essen müßten.«
»Was bekommt er denn statt dessen?«
»Was wir gerade Lust haben zu kochen«, sagte Lewis mit Genugtuung.
Wir hörten ein Klopfen an der Hintertür. Ich drehte mich um und stellte fest, daß Rosie angekommen war. Sowie sie und William einander sahen, begannen ihre Gesichter zu leuchten. Es gab selten irgendwelche öffentlichen Liebesbeweise zwischen ihnen, aber an ihrer Hingabe bestand kein Zweifel. Er ließ sich von ihrer Mißmutigkeit nicht stören, und sie nahm seine Hypochondrie völlig gelassen. Infolgedessen beklagte er sich seltener über eingebildete Leiden, und ihre schlechte Laune hielt sich in Grenzen.
Heute abend war sie mit einem dunkelroten Sackkleid und einem mit lila-blauem Paisleymuster bedruckten Schal bekleidet, und die kräftigen Farben verliehen ihrem leuchtend rot gefärbten Haar eine dramatische Note. Sie wirkte ganz entspannt. Mir war sie stets als eine abgrundtief schüchterne Person erschienen, die sich unter Fremden unwohl fühlte, aber Freunden gegenüber herrisch war. Sie hatte einen Hang dazu, mit Männern zu flirten, Frauen kaum ertragen zu können und Kinder zu übersehen. Zugleich tyrannisierte sie das Personal ihres Restaurants und zahlte so niedrige Löhne wie möglich. William und ich versuchten andauernd, sie dazu zu bringen, ihren Geldbeutel ein bißchen weiter aufzumachen. Was mich betraf, so traktierte sie mich seit dem Tag, an dem ich in dieses Viertel gezogen war, gnadenlos. Sie war nicht bösartig, aber eigensinnig, und sie hielt mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg. Seit ich begonnen hatte, mein Abendessen meistens in ihrem Restaurant einzunehmen, hatte sie mir mit schöner Regelmäßigkeit vorgeschrieben, was ich bestellen sollte, und sämtliche Vorlieben oder Wünsche meinerseits ignoriert. Obwohl ich mich selbst gern für resolut halte, habe ich es nie gewagt, mich ihr zu widersetzen. Meine einzige Gegenwehr angesichts ihres diktatorischen Verhaltens war passiver Widerstand. Bislang hatte ich mich standhaft geweigert, mir einen Ehemann oder einen Hund anzuschaffen, zwei (anscheinend) austauschbare Elemente, die sie als unerläßlich für meine Sicherheit erachtete.
Nun, da sie ihrerseits kurz vor dem Schritt ins Eheleben stand, schien sie mit sich selbst Frieden geschlossen zu haben: Sie war stets zu Scherzen aufgelegt und lächelte viel. Williams Geschwister hatten sie ohne jedes Zögern akzeptiert... abgesehen natürlich von Henry, der sprachlos war, als sich die beiden zusammentaten. Langsam begann ich, die Hochzeit weniger als einen Bund zwischen ihr und William zu sehen, sondern vielmehr als offizielle Zeremonie, mit der sie in den Stamm aufgenommen wurde.
Im Nebenzimmer begann Henry in voller Lautstärke seine Version von »Happy Birthday« für Lewis herunterzuhämmern. Wir gesellten uns zu ihm und sangen eine geschlagene Stunde lang, bevor wir uns zum Essen
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