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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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sprach. Es wäre stets ein Risiko, weil er durchaus an jemanden geraten könnte, der genau in der Einheit war, in der er gedient zu haben behauptete. Indem er den Eindruck hervorrief, die Regierung wolle etwas vertuschen, machte er seine Weigerung plausibel, über Einzelheiten zu sprechen, die ihn verraten könnten.
    Ich ließ meinen Blick über den Garten schweifen und starrte auf den Ford Fairlane, der auf Betonblöcken aufgebockt war. Weshalb kümmerte es mich überhaupt? Der alte Knabe war tot. Wenn der Glaube, er sei ein Kriegsheld gewesen (oder, noch grandioser, ein Spion, dessen Tarnung mittlerweile über vierzig Jahre nicht aufgedeckt worden war), seinen Sohn und seinen Enkel tröstete, was sollte mich das scheren? Ich wurde nicht dafür bezahlt, daß ich Johnnys Geschichte zerfetzte. Ich wurde für rein gar nichts bezahlt. Also warum ließ ich die Sache nicht fallen?
    Weil es gegen meine Natur ist, sagte ich zu mir selbst. Ich bin wie ein kleiner Terrier, wenn es um die Wahrheit geht. Ich muß meine Nase in das Loch stecken und graben, bis ich herausfinde, was darin ist. Manchmal werde ich gebissen, aber dieses Risiko gehe ich meistens bereitwillig ein. In mancher Hinsicht lag mir weniger das Wesen der Wahrheit am Herzen als vielmehr das Wissen darum, woraus sie bestand.
    Ich spürte, wie sich der große, fünfzehn Zentimeter lange Schlüssel in meine Hüfte bohrte. Ich streckte mein Bein aus und schob die Hand in die Tasche meiner Jeans. Ich zog den Schlüssel heraus, legte ihn auf meine Handfläche und wog ihn. Ich rieb mit dem Daumen die nachgedunkelte Oberfläche auf und ab. Ich blinzelte das verfärbte Metall ebenso an, wie Babe es getan hatte. Der Name des Schloßherstellers schien undeutlich auf dem Schaft eingeprägt zu sein, aber bei diesem Licht konnte ich ihn nicht entziffern. Es schien keiner der Schloßhersteller zu sein, die ich kannte: Schlage, Weslock, Weiser oder Yale. Der Safe war von Amsec gewesen, ein reines Zahlenschloß, und so glaubte ich nicht, daß der Schlüssel irgendwie damit zusammenhing.
    Ich erhob mich mühsam und steckte den Schlüssel wieder in die Hosentasche. Ich war unruhig und überlegte, was ich tun sollte, bis Chester nach Hause kam. Es war durchaus möglich, daß ihn sein Gedächtnis im Stich gelassen hatte. Ich hatte die Geschichte lediglich von Bucky gehört, und er könnte ja die Daten verwechselt haben. Ray Rawson hatte mir erzählt, er hätte kurz nach Kriegsbeginn mit Johnny auf der Werft gearbeitet, was irgendwann im Jahr 1942 gewesen sein muß. Es kam mir seltsam vor, daß jemand, der Johnny aus »alten Zeiten« kannte, plötzlich vor der Tür des alten Mannes aufgetaucht war. Trotz der lässigen Erklärung fragte ich mich, ob etwas anderes dahintersteckte.

    Das Hotel Lexington stand in einer Seitenstraße einen Block von der unteren State Street entfernt am Strand. Es war ein wuchtiger fünfstöckiger Kasten aus matt wirkendem gelbem Backstein über einem Säulengang, der sich über das gesamte Erdgeschoß erstreckte. Auf der einen Seite des Gebäudes zog sich ein gezackter Riß, der aussah wie ein Blitz, vom Dach bis zum Fundament unregelmäßig durch den Stein und ließ auf einen Erdbebenschaden schließen, der vermutlich 1925 eingetreten war. Die Buchstaben des Wortes Lexington standen untereinander auf einem Schild, das an einer Hausecke angebracht war, ein surrender Neonstreifen, in dessen Biegungen tote Insekten lagen. Das Vordach offerierte • Tägliche Reinigung • Telefon • Farb-TV in allen Zimmern. Der Eingang war flankiert von einem mexikanischen Restaurant auf der einen Seite und einer Bar auf der anderen. In jedem Lokal kämpfte eine plärrende Musikbox um Gehör, ein mißtönender Wettstreit zwischen Linda Ronstadt und Helen Reddy.
    Ich betrat die Hotelhalle, die spärlich möbliert war und nach Bleichmittel roch. Zwei Reihen Fächerpalmen in Blumentöpfen waren auf beiden Seiten eines abgetreten wirkenden roten Teppichs aufgestellt, der den Weg zur Rezeption markierte. An der Anmeldung war niemand zu sehen. Ich nahm das Haustelefon ab und bat die Vermittlung, mich mit Ray Rawsons Zimmer zu verbinden. Er nahm nach dem zweiten Klingeln ab, und ich meldete mich. Wir sprachen kurz miteinander, dann erklärte er mir den Weg zu seiner Bleibe im vierten Stock. »Nehmen Sie die Treppen. Der Aufzug braucht ewig«, sagte er, bevor er auflegte.
    Ich stieg die Treppen hinauf, indem ich jeweils zwei Stufen auf einmal nahm, um die Leistungsfähigkeit

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