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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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meiner Lungen zu testen. Zwischen zweitem und drittem Stock war ich außer Atem und mußte langsamer weitergehen. Auf der letzten Etappe klammerte ich mich ans Treppengeländer. Wenn man in einer Sportart trainiert ist, hat das offenbar keinerlei Auswirkungen auf andere. Ich kenne Jogger, die keine zwanzig Minuten auf einem Heimtrainer durchstehen würden, und Schwimmer, die nicht weiter als eine Meile joggen könnten, ohne zusammenzubrechen.
    Ich verschnaufte ein wenig, bevor ich an die Tür von Zimmer 407 klopfte. Ray öffnete mit einem summenden, schnurlosen Rasierapparat in der Hand. Er war barfuß, trug Chinos und ein weißes T-Shirt, und sein kahl werdender Schädel war noch feucht vom Duschen. Der bereits kurz geschnittene Kranz grauen Haares war seit gestern nachgeschnitten worden. Er lächelte verlegen, und die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen verlieh ihm einen Anstrich von Unschuld. Er winkte mich herein. »Sie sind zu schnell. Ich wollte das alles erledigen, bevor Sie den Weg hier herauf geschafft hatten. Bin gleich wieder da.«
    Er ging ins Badezimmer, und das Summen des Rasierers verklang, als er die Tür schloß.
    Sein Zimmer war geräumig und schlicht: weiße Wände, weiße Tagesdecke, grobe, weiße Baumwollvorhänge, die mit dicken Holzstäben aufgezogen worden waren. Es gab nur zwei Fenster, doch waren beide doppelt breit und gingen auf die Rückseite des Hauses auf der anderen Seite der Gasse hinaus. Der Teppich war grau und wirkte relativ sauber. Der Blick, den ich ins Badezimmer hatte werfen können, zeigte mir Wände mit glänzenden, weißen Keramikfliesen und einen Fußboden, der mit kleinen schwarzen und weißen Sechsecken ausgelegt war. Ray kehrte zurück und roch intensiv nach Rasierwasser.
    »Gar nicht schlecht hier«, sagte ich und drehte mich halb um.
    »Fünfzig Mäuse die Nacht. Ich habe nach Sonderpreisen für die ganze Woche gefragt, nur bis ich eine eigene Wohnung bekomme. Bucky hat vermutlich nichts über die Vermietung gesagt.«
    »Zu mir nicht«, sagte ich. »Haben Sie gehört, daß bei ihnen eingebrochen worden ist?«
    »Bei wem? Sie meinen, bei Bucky und denen? Wann denn?«
    Ich liefere ihm die à la Reader’s Digest gekürzte Fassung der Geschichte und beobachtete, wie sein Lächeln von einem Ausdruck der Ungläubigkeit und dann der Besorgnis abgelöst wurde.
    »Mein Gott. Das ist ja entsetzlich«, sagte er und bemerkte erst jetzt meinen Gesichtsausdruck. »Warten Sie mal. Warum sehen Sie mich so an? Ich hoffe, Sie glauben nicht, daß ich irgend etwas damit zu tun hatte.«
    »Es kommt mir einfach nur seltsam vor, daß es keinerlei Probleme gab, bevor Sie aufgetaucht sind. Johnny ist vor vier Monaten gestorben. Sie schneien letzte Woche herein, und plötzlich hat Chester Ärger.«
    »Kommen Sie. He. Ich bin gestern abend in der Bar gesessen und habe auf dem Großbildschirm ferngesehen. Sie können alle fragen.«
    »Darf ich mich setzen?«
    »Klar, nur zu. Nehmen Sie den guten Stuhl. Ich nehme den hier.«
    Es gab einen harten, hölzernen und einen gepolsterten Stuhl. Ray steuerte mich auf letzteren zu und nahm sich den Holzstuhl. Er legte sich die Hände auf die Knie und rieb sie am Stoff, als schwitzte er an den Handflächen. »Ich bin wahrscheinlich der älteste und beste Freund, den Johnny je hatte. Ich würde seinem Sohn oder seinem Enkel nie irgendwelchen Ärger machen. Sie müssen mir glauben.«
    »Ich beschuldige Sie ja nicht, Ray.«
    »Klingt mir aber schon danach.«
    »Wenn ich der Meinung wäre, daß Sie eingebrochen haben, wäre ich vermutlich nicht hier herauf gekommen. Ich wäre zur Polizei gegangen und hätte sie gebeten, nach Fingerabdrücken zu suchen.«
    »Das haben Sie nicht getan?«
    »Chester ist sich nicht sicher, daß etwas gestohlen wurde, was bedeutet, daß es in den Augen der Bullen gar kein Einbruch war. Die Spurensicherung nimmt nur an Tatorten richtiger Verbrechen Fingerabdrücke. Bei größeren Straftaten, nicht bei Kleindelikten. Auch grober Unfug fiele nicht darunter, es sei denn, es wäre ein Schaden in Höhe von Tausenden von Dollar entstanden, was in diesem Fall nicht zutrifft.« Was ich verschwieg, war, daß es eine langwierige Prozedur und die Abteilung ohnehin stets im Rückstand ist. Drei Wochen sind Standard. In eiligen Fällen könnten allerdings Fingerabdrücke genommen, fotografiert und aufgezeichnet und die fertigen Zeichnungen zur CAL ID nach Sacramento gefaxt werden. Das würde etwa einen oder zwei Tage dauern. In diesem Fall

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