Letzte Ehre
einen Blick auf die drei Passagiere der ersten Klasse, doch die Schwangere war nicht unter ihnen. Ich sah nach der Platznummer auf dem Abschnitt meiner Bordkarte: 10D, vermutlich über der Tragfläche auf der linken Seite des Flugzeugs. Während ich darauf wartete, daß die Passagiere vor mir ihre Reisetaschen verstauten und es sich auf ihren Sitzen gemütlich machten, gelang es mir, meine Blicke über die ersten Reihen der Touristenklasse schweifen zu lassen. Sie saß acht Reihen weiter hinten auf einem Fensterplatz auf der rechten Seite. Sie hatte eine Puderdose herausgeholt und äugte in den Spiegel. Dann zog sie ein Fläschchen Make-up hervor, schraubte es auf und tupfte sich Beige auf die Wangen, das sie anschließend verteilte.
Die meisten der auf Augenhöhe gelegenen Gepäckfächer standen offen. Ich bewegte mich vorwärts und wartete darauf, daß der Student vor mir eine Leinentasche von den Ausmaßen eines Sofas in das Fach legte. Als ich an der achten Reihe vorbeikam, sah ich den Matchsack, halb verborgen vom zusammengelegten Regenmantel der Schwangeren, wobei beide Stücke zwischen einen prallvollen Kleidersack aus Segeltuch, eine Aktentasche und ein Gepäckwägelchen gequetscht waren — genau die Gegenstände, die dazu prädestiniert waren, bei der Landung herauszufallen und einem auf den Kopf zu donnern. Wenn ich die Nerven gehabt hätte, hätte ich den Matchsack einfach herausgezogen, mitgeschleppt und unter meinen Sitz gestopft, bis ich Zeit gehabt hätte, seinen Inhalt zu untersuchen. Die Schwangere blickte in meine Richtung. Ich wandte mich ganz beiläufig von ihr ab.
Ich nahm meinen Platz ein und schob meine Umhängetasche unter den Sitz vor mir. Die beiden Plätze neben mir waren frei, und ich sandte kleine fluglinienartige Gebete nach oben, daß ich die Reihe für mich behalten würde. Notfalls konnte ich die Armlehnen hochklappen und mich zu einem Nickerchen ausstrecken. Genau in diesem Moment erhob sich die Schwangere und trat auf den Gang hinaus, wo sie ins Gepäckfach griff. Sie schob den Kleidersack beiseite und kramte ein gebundenes Buch aus einer Außentasche des Matchsacks. Die Stewardeß ging hinter ihr den Gang entlang und schloß sämtliche Gepäckfächer mit einer Reihe kleiner Knalle.
Kurz nachdem die Türen geschlossen worden waren, stellte sich die Stewardeß vor die Versammelten und gab detaillierte Anweisungen, einschließlich einer praktischen Demonstration, wie die Sicherheitsgurte zu schließen und zu öffnen seien. Ich fragte mich, ob sich irgend jemand unter den Anwesenden befand, den das noch beeindruckte. Außerdem erklärte sie, was zu tun war, wenn wir davorstanden, zertrümmert, zermalmt und verbrannt zu werden, weil wir bei hoher Geschwindigkeit aus unserer Flughöhe von achttausend Metern geradewegs nach unten auf die Erdoberfläche stürzten. Mir erschien die kleine herabhängende Sauerstoffmaske bedeutungslos, aber offenbar fühlte sie sich besser, wenn sie uns Tips für die Anwendung dieses Dings gab. Um uns von der Möglichkeit unseres Ablebens unterwegs abzulenken, versprach sie uns einen Getränkewagen und einen Happen zu essen, wenn wir erst einmal in der Luft wären.
Das Flugzeug rollte vom Flughafengebäude weg und hinaus auf die Rollbahn. Nach einer Pause begann die Maschine vorwärtszubrausen und gewann ganz zielstrebig an Geschwindigkeit. Wir rumpelten und ruckelten, was das Zeug hielt. Das Flugzeug erhob sich in den Nachthimmel, und die Gebäude unter uns wurden rasch kleiner, bis nur noch ein planloses Lichtgitter zurückblieb.
7
Ich sah in die Tasche am Sitz vor mir: Kotztüte, beschichtete Karte mit Anweisungen für den Notfall in Comicfassung, ein langweiliges Fluglinienmagazin und ein Geschenkkatalog für den Fall, daß ich meine Weihnachtseinkäufe in der Luft tätigen wollte. Es würde eine lange Reise werden, und das ohne meinen zuverlässigen Leonard-Krimi. Ich merkte, wie mein Blick langsam wieder zu der Schwangeren wanderte, die auf der anderen Seite des Gangs zwei Reihen vor mir saß. Auf diese Entfernung konnte ich nur einen Teil ihres Gesichts sehen. Das Gewirr rotbraunen Haares weckte in mir den Drang, mit einer Bürste auf sie loszugehen.
Ich konnte immer noch nicht fassen, daß ich das tat. Ich beschloß, lieber erst einmal meine Bestände zu überprüfen, um meine Situation einschätzen zu können. Ich hatte die Kleider, die ich trug, also meine Reeboks und Socken, Unterwäsche, Jeans, Rollkragenpullover und Blazer. Ich steckte
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