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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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daß sie nichts Unerläßliches vergessen hatte. Ich nahm die Kette aus der Schiene, spähte in beiden Richtungen den Korridor entlang und winkte den beiden. Ray und Laura gingen nach rechts, auf die Feuertreppe am Ende des Flurs zu.
    Ich wandte mich nach links, in Richtung Aufzug.
    Der Aufzug kam mir vor, als führe er mit halber Geschwindigkeit. Ich sah, wie die Nummern der Stockwerke von rechts nach links aufleuchteten und in Zeitlupe rückwärts zählten. Als er in der Hotelhalle angekommen war, ertönte das gewohnte ping, und die Türen gingen auf. Einen halben Meter vor mir stand Gilbert und wollte einsteigen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke und blieben kurz aneinander haften. Seine Augen waren abgründige schwarze Löcher. Ich ließ meinen Blick beiläufig weiterschweifen, als ich an ihm vorüberging und nach rechts bog, als wäre ich ein ganz normaler Hotelgast. Hinter mir glitten die Türen wieder zu. Ich suchte die Halle nach irgendeinem Hinweis auf den Hilfssheriff ab. Keine Spur von einem Gesetzeshüter. Ich ging schnelleren Schrittes weiter und warf automatisch einen Blick zurück auf die leuchtende Stockwerksanzeige. Der Aufzug hätte nach oben fahren sollen. Statt dessen blieb das Licht unbeweglich dort stehen, wo es war. Ich hörte ein Ping, und die Aufzugtüren gingen wieder auf. Gilbert kam heraus. Er stand auf der weiten, mit Teppichboden ausgelegten Fläche direkt vor den Aufzügen und starrte in meine Richtung. Kriminelle und Polizisten verfügen häufig über eine erhöhte Aufmerksamkeit, ein messerscharfes Wahrnehmungsvermögen, das vom Adrenalin herrührt. Ihre Arbeit — und eigentlich ebensooft ihr Leben — ist abhängig von Scharfsinn. Gilbert war offenbar ein Mensch, der die Realität mit nachtwandlerischer Genauigkeit registrierte. Etwas an seinem Gesichtsausdruck verriet mir, daß er sich aufgrund unserer einzigen, kurzen Begegnung auf dem Flughafen in Santa Teresa an mein Gesicht erinnerte. Wie er mich mit Laura Huckaby in Verbindung brachte, werde ich nie begreifen. Der Moment war wie elektrisiert, das Erkennen funkte zwischen uns wie ein Blitz.
    Ich behielt meine »normale« Gangart bei, als ich um die Ecke bog. Ich ging am Eingang zum Coffee Shop vorbei und bog noch einmal rechts ab, in einen kurzen Korridor mit drei Türen: eine ohne Schild, eine mit der Aufschrift »Nur für Zutrittsberechtigte« und eine, auf der »Wartung« stand. Sowie ich aus Gilberts Blickfeld verschwunden war, rannte ich los, und meine Umhängetasche schlug mir gegen die Hüfte. Ich zwängte mich hastig durch die unbeschriftete Tür und fand mich in einem kahlen Flur wieder, den ich noch nie gesehen hatte. Der Betonfußboden und die nackten Betonwände machten eine Linkskurve. Die Wände zogen sich im fahler werdenden Licht nach oben, bis die oberen Bereiche in der Finsternis verschwanden. Ich konnte keine Decke erkennen, aber eine Reihe dicker Seile und Ketten, die bewegungslos unter den Schatten hingen. Ich passierte leere Wagen für Tablette, hölzerne Paletten voller Glaswaren, Berge von Leinentischtüchern und Karren voller Teller in den verschiedensten Größen. Türme über Türme gestapelter Stühle standen an den Wänden und machten den Durchgang an manchen Stellen enger.
    Meine Schritte polterten leise, wobei das Geräusch von den Gummisohlen meiner Reeboks gedämpft wurde. Ich vermutete, daß ich mich hier in einem Servicekorridor befand, der an einen Bankettsaal angrenzte, ein Kreis innerhalb eines Kreises mit Zugang zu Lastenaufzügen und den Küchen eine Etage tiefer. Eine kurze Treppe führte nach oben. Ich ergriff den Handlauf, zog mich hinauf und übersprang im Laufschritt einige Stufen. Die Umhängetasche gab mir das Gefühl, als schleppte ich einen Anker hinter mir her, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Oben ging der Korridor weiter. Hier standen, an die Wände gelehnt, zahlreiche Dekorationsartikel für verschiedene Jahreszeiten: Weihnachtsengel, künstliche Tannenbäume, zwei riesige, ineinander übergehende Komödien-/Tragödienmasken, vergoldete hölzerne Putten und Amors und gigantische Valentinsherzen, die von goldenen Pfeilen durchbohrt wurden. Ein Hain aus seidenem Ficus bildete einen kleinen Zimmerwald ohne Vögel oder sonstige Lebewesen.
    Hinter mir hörte ich eine Türangel quietschen. Ich beschleunigte meinen Schritt und folgte weiter dem verlassenen Korridor. Eine metallene Leiter, die wie eine Innen-Feuerleiter aussah, verlief zu meiner Linken die Wand

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